: Deutsche von drüben zum Umarmen finden
Die Sylvesterfete am Brandenburger Tor wurde in der Neujahrsnacht Anziehungspunkt für Hunderttausende / Flaggenstreit an der Quadriga / Massen berauscht von Sekt und Gesamtberliner Gefühl / Über hundert Verletzte und ein Toter unbeachtet ■ Vom Tor Antje Bauer
Ein riesiges Feuerwerk entlang der Mauer zeigte in der Neujahrsnacht die Trennungslinie, die durch Berlin läuft. Das Brandenburger Tor, Hauptattraktion der Gesamtberliner Sylvesternacht, flackerte in den Farben der Feuerwerkskörper auf, die Luft stank nach Schwefel. Hunderte begleiteten das Ereignis mit den hackenden Geräuschen ihrer Pickel, mit denen sie der Mauer zusetzten. Die DDR-Grenzposten hatten schon bald jeden Versuch aufgegeben, die Übergänge kontrollieren zu wollen, Ost und West mischten sich unkontrolliert.
Die ersten hatten bereits am Nachmittag den antifaschistischen Schutzwall vor dem Brandenburger Tor erklettert, um beim ersten „deutsch-deutschen Neujahr“ ganz vorne zu sein. Unter ausländische Touristen und westdeutsche Besucher hatten sich Ostberliner Familien gemischt, um an diesem denkwürdigen Tag einen Spaziergang im kalten Tiergarten zu machen. Gegen Abend waren die U-Bahnen und Busse nur noch unter Einsatz von Brachialgewalt zu benutzen
-alles, was Beine hatte, war auf dem Weg zum Brandenburger Tor. Im Tiergarten räumten mit der Dunkelheit die letzten türkischen Jungen ihre ambulanten Mauersteinverkaufsstellen und wurden durch raketenabschießende Familienväter ersetzt.
Gegen Mitternacht war auf der alten Achse Straße des 17.Juni/Unter den Linden kein Stehplatz mehr zu ergattern. In Bäumen hingen Feiernde, über Regenrinnen und Gerüste erklommen Hunderte das Brandenburger Tor. Dort wurde die DDR -Fahne herabgezogen, neu gehißt, wieder herabgezogen und die Europafahne gehißt, die Scheinwerfer beleuchteten einige Turner, die auf den Pferden der Quadriga ritten, während ein Jongleur oben auf dem Torbogen mit Fackeln spielte. Auf der Mauer herrschte drangvolle Enge. Allenthalben wurden weitere Höhensüchtige hinaufgehievt, andere nur knapp vorm Herunterfallen bewahrt - nicht immer erfolgreich, denn über dreißig Verletzte registrierte am Montag die Polizei.
Unter die Mauerbesteiger hatte sich diesseits ein Saxophonist gemischt, die Menge unten schwofte, östlich der Mauer, Unter den Linden, wurde zu den blechernen Klängen eines Radiorekorders getanzt - „Mensch, hier isses ja genauso wie bei uns auf der anderen Seite“, krähte begeistert eine Ost-Berlinerin!: „Euch fällt heute wohl auch nichts Neues mehr ein!“ Hunderttausend drängten sich um Mitternacht an dem symbolischen Tor, stolperten über Sektflaschen, wateten durch Scherben und Reste von Feuerwerkskörpern. Familienverbände und Wohngemeinschaften zogen in langen Ketten durch die Menschenmassen, die Kinder auf den Schultern in Sicherheit gebracht. Wer die Maueröffnung und die Öffnung des Brandenburger Tors verpaßt hatte, mußte wenigstens heute dabeigewesen sein, mußte Deutsche von der anderen Seite gefunden und umarmt haben, mußte mit ihnen Sekt getrunken und „Wahnsinn“ geschrien haben. Das war nicht schwer.
Schönes neues Jahrzehnt, wünschten sich Unbekannte, fielen sich um den Hals, dann die Frage: „Bist du von drüben oder von hier?“ - „Weiß ich selber nicht mehr so genau“ , kritischer Blick auf die Sektmarke. Fahnen waren mitgebracht worden auf dieses Neujahrsfest, bundesdeutsche, gesamtdeutsche, europäische, selbst kanadische - egal, Fahnen. „Ich bin extra aus Frankreich angereist“, berichtet gerührt ein junger Mann, „damit es sowas wie die Mauer nie wieder gibt.“
Doch die Euphorie, die Volksfeststimmung, wirkte ein wenig erzwungen. Schon kurz nach Mitternacht häuften sich die Schnapsleichen, die von ihren Begleitern nach Hause geschleift wurden, die Menge verwandelte sich in eine zunehmend schwankende Masse, die sektselige Verbrüderungen feierte. Nachts um halb zwei brach auf Ostberliner Seite ein Gerüst zusammenbrach, von dem aus ein Videofilm der Sendung „Elf99“ das rauschende Fest wiedergegeben hatte. 300 Personen, die dort hinaufgeklettert waren, um aufs Tor zu gelangen, stürzten sechs Meter in die Tiefe. Über 130 von ihnen wurden verletzt und mußten in Krankenhäuser gebracht werden, die Polizei fand einen 24jährigen West-Berliner nicht weit davon entfernt tot auf.
Doch trotz der daraufhin anrollenden Krankenwagen, trotz des Sirenengeheuls ging daneben das Fest weiter. Wurde weiter getrunken und geschwoft. In der Straßenmitte von Unter den Linden hatte sich eine angetrunkene Gruppe schwarzbejackter Jugendlicher in ein Mißverständnis verhakt. „Wir wollen hier keine Faschis“, hatte einer der Jugendlichen mit kahlem Kopf erklärt. Die Westler hatten sich daraufhin beleidigt gefühlt: „Wir sind Antifa“, hatte einer von ihnen entgegengesetzt. Verbrüderung ist schwer. Nur Berlins mythischer Stadtteil Kreuzberg blieb seinem Renomme treu: Wem es gelungen war, einen Omnibus dorthin zu ergattern, mußte den Rest des Weges zu Fuß gehen: Wasserwerfer und Polizeifahrzeuge hatten sich der Straßen bemächtigt, nachdem Barrikaden gebaut worden und Steine geflogen waren.
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