: „Die Veranstaltung hatte keinen Veranstalter“
■ DDR-Polizei war in der Silvesternacht am Brandenburger Tor hilflos / Ein Toter und über 100 Verletzte in Ost-Berlin / Die Quadriga auf dem Tor wurde schwer beschädigt / Strafanzeige gegen DDR-Fernsehen? / Elf99: „Wir haben das nicht vorhergesehen und gewollt“
Der Platz am Brandenburger Tor hat sich ganz offensichtlich als ungeeignet für deutsch-deutsche Silvesterfeiern erwiesen. Zu dieser Einschätzung gelangte gestern auch der Vizepräsident der DDR-Volkspolizei, Hartmut Preiß, in einem Interview mit der Nachrichtenagentur 'adn‘. „In einer solchen Situation ist die Polizei hilflos“, erklärte Major Jörg Gallas, Sprecher der DDR-Polizei, der taz. Die Bilanz der deutsch-deutschen Feierwut gestern auf östlicher Seite: Ein Toter, 111 Verletzte, von denen 86 im Zusammenhang mit der einstürzenden Videowand des DDR-Fernsehens verletzt wurden. 22 der Gerüstbesteiger stammen nach Angaben von Gallas aus West-Berlin und der BRD, drei sind Ausländer. Gestern lagen noch 21 Menschen in Ostberliner Krankenhäusern, davon vier aus dem Westen. Bei dem ums Leben gekommenen jungen Mann handelt es sich um einen 24jährigen Studenten aus West-Berlin, der gegen zwei Uhr morgens etwa 250 Meter entfernt vom Brandenburger Tor mit einem Wirbelsäulenbruch gefunden wurde. Eine Obduktion habe ergeben, so Gallas, daß er aus großer Höhe heruntergefallen sein müsse - möglicherweise auch von einem Baum.
In Aufnahmen der Aktuellen Kamera waren die schweren Schäden der Kupferquadriga auf dem Brandenburger Tor zu sehen: Das Zaumzeug des 1794 errichteten Denkmals wurde zerstört, die Pferde mit Fußtritten demoliert. Der Lorbeerkranz der Siegesgöttin wurde abgebrochen und gestohlen. Teilweise wurde auch die Abdeckung des Tores entfernt; Ostberliner Denkmalschützer befürchten, daß durch Eindringen von Feuchtigkeit in das Innere des Tores weitere große Schäden entstehen könnten. Die Masse der Quadrigastürmer stamme aus dem Westen, so die DDR-Polizei. Von den 520 Menschen, die z.T. mittels professioneller Bergsteigerausrüstung das Tor erklommen hatten, sind von der Vopo 26 DDR-Bürger identifiziert worden. Gegen sie soll Anzeige wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung erstattet werden. Auch das DDR-Fernsehen, dessen Jugendmagazin Elf 99 live vom Tor berichtete, hat möglicherweise mit einer Anzeige zu rechnen. Vopo-Präsident Griebel läßt prüfen, ob eine „Verletzung der Veranstalterordnung“ vorliegt.
„Diese Veranstaltung hatte keinen Veranstalter“, wies der Generalintendant des DDR-Fernsehens, Hans Bentzien, gestern abend im Jugendmagazin Elf 99 die Vorwürfe an die Medien zurück. In der Sendung wurde „in eigener Sache“ ein Gespräch mit dem Moderator der Silvesternacht, Jan Carpentier, mit dem Fernsehintendanten und mit dem für den Aufbau der Videowand Verantwortlichen Leiter des Video-Sound-Service, Wilfried Handwerk, geführt. Die Firma hatte den Auftrag für die Errichtung der Videowand vom Fernsehen erhalten. Auch der Standort sei vom Fernsehen festgelegt worden, so Handwerk. „Frei auf dem Platz wäre sie noch unsicherer gewesen. Sie wurde deswegen so nah vor dem Tor aufgebaut, um durch die Gebäuderückwand zusätzliche Sicherheit zu erreichen.“
Der Sturm auf das Tor sei nicht vorhersehbar gewesen, darin waren sich alle Diskussionspartner einig. Während Handwerk in altbewährter DDR-Diktion von faschistischen Elementen sprach und damit jede Verantwortung von sich wies, übten die Redaktion von Elf 99 und ihr oberster Dienstherr leise Selbstkritik. „Es war unsere journalistische Pflicht, von dort zu berichten“ begründete Bentzien die Sendung. „Das, was dort passiert ist, haben wir nicht vorhergesehen und nicht gewollt“, so die Redaktion von Elf 99. „Blauäugig“ charakterisierte Bentzien die Intention. Aber: Nach der Öffnung des Brandenburger Tors seien die Reporter einfach in der Menge verschwunden, deswegen habe man diesmal eine Bühne aufgebaut und die Wand errichtet, um den Massen einen Überblick zu bieten. Aufschlußreich die Begründung des Moderators Carpentier: „Wir wollten nicht alles denen von drüben überlassen.“ Die von drüben waren ARD und ZDF; ARD und DDR-Fernsehen übertrugen gemeinsam, das ZDF in einer eigenen Sendung vom Pariser Platz.
kd
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