: übersiedler aus dem Fernen Osten
Über 1.000 Vietnamesen, die von der DDR als Arbeitskräfte ins Land geholt worden waren, sind seit Öffnung der Grenzen nach West-Berlin gekommen / Die meisten haben bereits Asyl beantragt / Der Rassismus in der DDR wächst / Sündenböcke für Warenknappheit ■ Aus Ost-Berlin A.Böhm
In kleinen Gruppen stehen sie am Brandenburger Tor oder an anderen Grenzübergängen und warten auf eine günstige Gelegenheit. Ist das Gedränge groß genug und die Paßkontrolle nurmehr sporadisch, tun sie das, was für DDR -Bürger seit dem 9. November selbstverständlich ist: Sie gehen über die Grenze in den Westen. Über 1.000 Vietnamesen sowie einige Angolaner sind seit der Öffnung der Mauer nach West-Berlin gekommen und haben hier politisches Asyl beantragt.
Mehrere hundert nutzten das Grenz-Chaos in der Silvesternacht, um sich via Brandenburger Tor in den Westen abzusetzen. Dank der Solidarität sozialistischer Bruderländer sind sie vor einigen Jahren als Arbeitskräfte geholt worden - jetzt wollen sie nicht mehr zurück, weder in die DDR noch nach Vietnam. Die legale Einreise in den Westen, auch zu Besuchszwecken, ist ihnen verwehrt. Bei der Ankunft in Ost-Berlin hat die vietnamesische Botschaft die Pässe ihrer Landsleute eingezogen. Ausgestattet nur mit einer Lichtbildbescheinigung sind Fahrten in den Westen tabu.
1979 kamen die ersten Mozambiquaner ins Land, um dem Mangel an einheimischen Arbeitskräften in der Kohleindustrie abzuhelfen. Durch bilaterale Abkommen vor allem mit Vietnam, Mozambique und Angola wurden die weniger lukrativen und attraktiven Fabrikjobs wieder besetzt. Rund 160.000 AusländerInnen leben heute in der DDR, 70.000 sind Studenten oder Auszubildende aus „befreundeten Staaten“, etwa 90.000 arbeiten im Rahmen bilateraler Abkommen in DDR-Betrieben. Etwa zwei Drittel sind Vietnamesen. „Eine besondere Form der wirtschaftlichen Zusammenarbeit“, sagt Jürgen Schröder, Abteilungsleiter für ausländische Arbeitskräfte im neugeschaffenen Ministerium für Arbeit und Löhne.
Was am neuen Ausländergesetzentwurf des Bundesinnenministeriums scharf kritisiert wird, ist in der DDR längst gängige Praxis: die Rotation der Arbeitskräfte. Maximal vier oder fünf Jahre können Vietnamesen oder Mozambiquaner in der DDR bleiben. Eine Verlängerung auf Antrag ist möglich, doch Jürgen Schröder macht deutlich, daß die Abkommen keine „Ansiedlungsprogramme“ sind. Gefragt war bislang nur die Arbeitskraft, soziale Integration fand nicht statt. Da seien Fehler gemacht worden, räumt Schröder ein. Für die Ausländer rächt sich das bitter - in Form von Rassismus und Vorurteilen.
Daß Vietnamesen kein Aids und keine Drogen ins Land bringen, versuchte die FDJ-Zeitung 'Junge Welt‘ erst vor kurzem ihren Lesern klar zu machen. Ausländer würden in westlichen Devisen ausbezahlt, ist ein anderes weit verbreitetes Gerücht. Tatsächlich erhalten sie den gleichen Lohn in DDR-Mark wie ihre Kollegen. Vietnamesen müssen darüber hinaus zwölf Prozent ihres Lohnes an ihre Regierung abführen - zum „Aufbau des Landes“.
Zu scharfen Konflikten zwischen Einheimischen und Ausländern kommt es immer wieder aufgrund der Warenknappheit. 50 Prozent ihres Einkommens dürfen die Vietnamesen in Form von Waren nach Vietnam ausführen - oft die einzige Chance, die Familie im wirtschaftlich zerrütteten Heimatland über Wasser zu halten. Ihre Einkäufe führen oft zu Willküraktionen in den DDR-Läden. An der Kasse werden ihnen Waren aus dem Korb genommen oder für nicht verkäuflich erklärt, obwohl sie im Fenster liegen.
Die vietnamesische Botschaft, die bislang mit Argusaugen über ihre Landsleute wachte, versucht diese nun mit Versprechen, aber auch Drohungen zur Rückkehr zu bewegen ohne Erfolg. Über 700 Vietnamesen haben bereits in West -Berlin Asyl beantragt. Phan Phuc Vinh vom Westberliner Vietnamhaus, das die Neuankömmlinge aus dem anderen Deutschland berät und unterstützt, macht ihnen allerdings keine Illusionen über das Leben im Westen. Was sie erwartet, ist ein zermürbendes Asylverfahren, Verteilung nach Westdeutschland, Arbeitsverbot und ein in jeder Hinsicht kälteres Klima. „Seit dem 9.November sind wir hier Menschen dritter Klasse.“
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