: „Soll ich mich denn aufhängen?“
■ Multiple Sklerose: Nach der ersten Diagnose der unheilbaren Krankheit begann für Monika Williams (47) der gnadenlose Horror der Berliner Versorgungsbürokratie / „Wenn Sie jetzt schon Rente kriegen, kosten Sie uns ja 'ne Menge Geld“
3.000 Fälle von Erkrankung an Multipler Sklerose (MS) sind in Berlin bekannt. Monika Williams, von Beruf Technische Zeichnerin, ist eine der Betroffenen. Schon vor neun Jahren kam bei der jetzt 47jährigen der erste Schub der unheilbaren Krankheit, doch damals erkannten die Ärzte die Krankheit nicht, ein deutliches Zeichen für mangelndes Wissen. 1988 ging Monika Williams auf eigene Initiative ins Urban -Krankenhaus, wo der behandelnde Arzt innerhalb kurzer Zeit die Diagnose auf MS stellte. Monika Williams war bis dahin jahrelang zur Psychotherapie geschickt worden, da fälschlicherweise eine depressive Neurose attestiert worden war. Diese Verkennung von MS-Kranken ist keine Ausnahme, und Betroffene haben auch im Alltag darunter zu leiden. „Morgens früh schon besoffen!“ sei ihr schon zugerufen worden, weil ihr Gang oft unsicher ist, berichtet Monika Williams. Das sei schon schlimm genug, aber anders als bei den ÄrztInnen noch mit Unwissenheit zu entschuldigen. Eine Amtsärztin behandelte sie so, daß Monika Williams Ende Dezember 1989 eine Dienstaufsichtsbeschwerde einlegte.
Vorausgegangen war eine Ämterodyssee: Als Anfang Dezember der Anspruch auf Krankengeld ablief, wandte sich die Frau, die bis jetzt noch „von Luft und Liebe“ lebt, wie sie es ausdrückt, an das Sozialamt. Dort wurde sie ans Arbeitsamt verwiesen - obwohl ihr die Arbeitsunfähigkeit vom Arzt und von der Bundesanstalt für Arbeit bestätigt worden war. Es kam zum altbekannten Verweisen von Amt zu Amt, bis die Kranke endlich beim Arbeitsamt IV in der Schwerbehindertenstelle erscheinen sollte. Allerdings weigerte sich dort der Angestellte, die notwendigen Formulare für Monika Williams auszufüllen, obwohl sie an Lähmungen der Hände leidet. In weiser Voraussicht hatte sie einen Bekannten mitgebracht, der ihr half. Einige Zeit später erhielt sie die Aufforderung, sich beim Amtsarzt vorzustellen. „Ich habe 14 Wochen in Krankenhäusern verbracht und inzwischen 36 Untersuchungen hinter mir“, empört sich Monika Williams über diese weiteren überflüssigen Untersuchungen. MS kann nur durch eine nicht ganz risikolose Rückenmarkspunktion oder durch Untersuchung mit einem sogenannten „Summer“ festgestellt werden, der durch die Haut Nervenströme mißt und so MS-bedingte Unterbrechungen der Nervenstränge feststellt. Beide Methoden waren bei Monika Williams schon angewandt worden, weitere Untersuchungen konnten also keine neuen Erkenntnisse bringen. Trotzdem ging sie wieder hin. An diesem Tag ging es ihr so gut, daß sie mit dem Bus fahren konnte, an anderen Tagen kann sie gar nicht aus der Wohnung. Die Amtsärztin begrüßte Monika Williams mit den Worten: „Ach, Sie haben MS. Sie haben sich ja gar nicht ausgezogen!“ Im Herrschaftston, wie Monika Williams meint, und ohne sich vorzustellen. Die mitgebrachten Unterlagen mit allen Bescheinigungen sah die Ärztin sich nicht an.
Sie untersuchte statt dessen die Sehfähigkeit und das Gehvermögen. Beides ändert sich jedoch ständig, die Ergebnisse einer kurzen Untersuchung sind also nicht aussagekräftig. Die Ärztin stellte dann Fragen, die bei Monika Williams den Verdacht aufkommen ließen, daß getestet werden sollte, ob sie „noch ganz dicht sei“. Ihr wurden angebliche Daten aus der Akte vorgelesen, die so nicht stimmen konnten. Schließlich sagte die Ärztin noch: „Sie sind doch noch relativ jung. Wenn Sie jetzt schon Rente kriegen, dann kosten Sie uns ja 'ne Menge Geld, und das auf Jahre. Wir haben schon kein Geld.“ Monika Williams, die schon einiges gewohnt ist, verschlug es kurz die Sprache, dann fragte sie, ob sie sich denn erhängen oder erschießen solle.
Die Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Ärztin vom Arbeitsamt IV läuft seit dem 27. Dezember. Monika Williams hofft, daß sie so dazu beitragen kann, daß anderen MS -Kranken nicht ähnliches passiert. Die Landesbeauftragte für Behinderte, Angela Grützmann, hat Monika Williams zugesichert, sich ebenfalls für Verbesserungen einzusetzen.
Katja Niedzwezky
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