: Seghers ist Braun ist Brecht
■ „Transit Europa„-Premiere im Gorki-Theater Ost-Berlin
Ganz ruhig bleiben“, sagte der Herr, der am 20.Dezember an der Kasse auf seine verlegten Karten wartete, „in unserem Land ist soviel durcheinander, da kommt es auf zwei Theaterkarten nicht an.“
Gesellschaft im Übergang, Menschen im Warten; Gesellschaft im Stillstand, Menschen auf der Flucht: Transit Europa. Eine gute Zeit für dieses Drama, eigentlich. Angelehnt an den Transit-Roman von Anna Seghers, der die Situation der Emigranten beschreibt - in Marseille, neben Lissabon 1941 der letzte offene Hafen Europas, wartend auf eine Schiffspassage, ein Visum, ein Transit, eine Aufenthaltsgenehmigung - stellt es unter anderem eine Frage, die auch die DDR-Bevölkerung beschäftigt: Wer bleibt, wer geht? Wo ist ein besseres Leben zu gewinnen? Ich hatte eine bezahlte Karte, ich hatte ein Visum, ich hatte ein Transit. Doch zog ich es plötzlich vor, zu bleiben.(Anna Seghers)
Acht Menschen sitzen auf Stühlen vorm Meereshorizont, sitzen und warten, und das Publikum wartet mit. Nach Minuten schließlich wendet der erste den Kopf ins Publikum, um den pathetischen Satz zu sagen: „Ich weiß nicht, ob Du die Wahrheit ertragen kannst, Kamerad.“ Die Wahrheit, so es eine gibt, ertrage ich gern. Schlechtes Theater nicht.
Da kommt ein Schwarzer, geht an allen vorbei, setzt sich ans Meer. Und alle wenden den Kopf zu ihm und flüstern begehrlich: „Afrika...“ Unter die sachten Tamarisken / In den Tropenregen, der die Losungen / Abwäscht, trockene Protokolle (Volker Braun). Afrika, die Verheißung des ganz anderen, des Lebens ohne Politik, ist ein Paradoxon: die Imperialisten Europas retten sich in ihre letzte Kolonie, um ihrem Schlachtfeld zu entgehen. Die neuen Opfer fliehen ins Land der alten. Doch vor der Flucht steht Marseille, der Wartesaal Europas, mit seinen Behörden, seiner Gesellschaft von Suchenden und Verzweifelten. Wer bleiben will, braucht ein Visum, wer ein Visum will, braucht ein Transit: „Ich kann nicht bleiben und nicht fahren. Ich kann nicht bleiben, weil ich nicht fahren kann.“
Die Flüchtenden treffen sich in einer Pension: Sophie sucht ihren Mann Weigel, der ihr ein Visum verschaffen soll. Sie reist an mit ihrem Geliebten, dem Doktor, und geht an Ort und Stelle eine Beziehung mit Seidel ein, ein Flüchtender wie sie und der Doktor, der wiederum eine Affäre mit der Pensions-patronne hat. Also das große Programm: Liebe und Tod, Verrat und Kameradschaft. Der Roman von Anna Seghers ist drangvoll, spröde, dramatisch; Stück und Inszenierung sind es leider nicht. Mir schien es im Wesentlichen an der Figur des Protagonisten Seidel zu liegen: Daniel Minetti bölkt mit Grabesstimme seine bedeutungsvollen, kurzen Sätze aus unerfindlicher Dumpfheit heraus, nähert sich den Frauen rutschend, auf dem Boden knieend, Mund und Augen aufgerissen, und spielt überhaupt stupider, als es nötig wäre. Er verkörpert als Figur die Schwäche des expressionistischen Konzeptes, für das Regisseur Rolf Winkelgrund sich offenbar entschieden hat und das zugleich die Sternminuten des Abends ermöglicht: ein grausiger Pas de deux zwischen Hitler und Stalin, der Österreicher als schenkelklopfender Hanswurst, der Russe als Diva im Kaftan, beide in red light getaucht; eine gemeinsame Purzelbaumkette von Seidel und der patronne als libidinöse Vereinigung auf dem Bühnenboden zu Klaviermusik; schließlich der Schluß, bei dem, aus einer wogenden Leiberverschlingung emporgehoben, Sophie (Anne-Else Paetzold) a la Mutter Courage ihren Text ausruft.
Kurze Minuten, lange Stunden, so lang, daß man die Lampen summen hört.
Elke Schmitter
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