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Parteipolitik verkürzt Interessen auf Wahlkampfparolen

Programmerklärung des Neuen Forum - Auszüge aus dem Entwurf  ■ D O K U M E N T A T I O N

Die Herbstrevolution war unser erster Schritt in die Freiheit. Das alte Machtgebilde, der alte Staats- und Sicherheitsapparat wurden in einem stürmischen, aber friedlichen Aufbegehren erschüttert. Jetzt haben wir eine doppelte Aufgabe: die alten Strukturen unwiederbringlich zu beseitigen und den Aufbau eines neuen demokratischen Staates voranzubringen, der von seinen Bürgern angenommen wird. Es geht um den Bestand und die Zukunft unseres Landes, das viele Generationen unserer Vorfahren aufgebaut haben und das wir unseren Kindern in bewohnbarem Zustand übergeben wollen.

Einmal in Gang gekommen, kann die Umgestaltung der DDR nicht bei unseren inneren Aufgaben stehenbleiben. Die ganze Menschheit ist bedroht durch einen ökologischen Zusammenbruch, durch maßlose Aufrüstung, durch den schwelenden Nord-Süd-Konflikt. Unser Land ist mitschuldig und mitbetroffen.

Doch politische Programme sind nutzlos, wenn sie nicht unser Handeln bestimmen. Schon wieder reden alle über Regierung, Verfassung und runde Tische, als sei die Revolution von oben zu erzwingen. Unser Kontrast dazu ist ein Programm, das den Schwerpunkt auf die Mobilisierung des einzelnen und der Basisgruppe setzt, in der jeder den anderen kennt und keine Verantwortung wegdelegiert werden kann. Demokratie ist für uns tägliches Verhalten, nicht nur ein Wahlsystem.

Bürgerbewegung

Das Neue Forum ist eine politische Plattform für alle Bürger, die den bestehenden Parteien die Durchsetzung einer konsequenten und basisorientierten Demokratisierung nicht zutrauen. Parteipolitik verkürzt unsere Interessen auf Wahlkampfparolen und verschiebt ihre Umsetzung auf Wahltermine. Sie teilt die Bürger und Bürgerinnen in Wahlblöcke. Es gibt jedoch zahlreiche Probleme, in denen das Meinungsspektrum quer durch die Parteien geht. Daher müssen Bürgerbewegungen wie unsere in den Volksvertretungen sein. Ohne sie kann es zu erneuter Verkalkung kommen, deren Zeuge wir über Jahrzehnte waren.

Das Neue Forum arbeitet als landesweite Bürgerinitiative, die sich in örtlichen und betrieblichen Basis- und thematischen Arbeitsgruppen organisiert. Es ist offen für Bürger verschiedener weltanschaulicher und parteilicher Orientierung, schließt aber jede Form menschenverachtender, gewaltverherrlichender und neofaschistischer Tendenzen aus.

Unsere Bürgerinitiative will demokratisches Engagement schon außerhalb der Parlamente organisieren. Es tritt für kommunale Selbständigkeit und demokratische Kontrolle des Arbeitslebens ein. Nur eine initiativreiche, mit politischer Phantasie arbeitende Basis kann die Demokratisierung unumkehrbar machen.

Daraus leitet das Neue Forum sein Mandat ab, sich mit eigenen Kandidaten an den Kommunal- und Volkskammerwahlen zu beteiligen.

Demokratie in der Wirtschaft

Die bürokratische Behelfswirtschaft hat den Arbeitenden die Verantwortung genommen. Die Arbeit und die Angelegenheiten ihres Betriebes sind ihnen fremd geworden. Alles lief ungeordnet, und Schuld war stets irgend jemand weiter oben. Das Neue Forum tritt ein für die Entflechtung des Wirtschaftsorganismus vom Staatsapparat.

Das Staatseigentum muß in eigenverantwortlich und ökonomisch selbständig arbeitendes gesellschaftliches Eigentum der Betriebe überführt werden. Der genossenschaftliche und private Wirtschaftssektor vor allem in der Zulieferindustrie, bei Dienstleistungen, in Handel und Versorgung sowie in der Landwirtschaft muß erheblich gestärkt und erweitert werden. Administrative Hemmnisse bei der Zulassung gewerblicher Unternehmen müssen beseitigt, ihre Besteuerung leistungsfördernd gestaltet werden. Das Neue Forum tritt also für eine gemischte Wirtschaft ein.

Staatliche Subventionen sind sehr streng auf Notwendigkeit und Wirksamkeit zu überprüfen. Sie werden unter anderem im Transport- und Kommunikationswesen aus gesellschaftlichem Interesse erhalten bleiben.

Die Abschaffung der dirigistisch-administrativen Planwirtschaft wird den marktorientierten Wettbewerb beleben und die Rechte des Käufers gegenüber dem Verkäufer sichern. Staatliche Eingriffe in den Marktmechanismus sind über steuer- und finanzpolitische Maßnahmen durchzusetzen.

Wir treten dafür ein, daß dem Markt dort Grenzen gesetzt werden, wo er sich gegen betriebliche oder gesellschaftliche Demokratie durchzusetzen versucht oder die ökologischen und solidarischen Grundlagen unserer Gesellschaft untergräbt. Um zu verhindern, daß die Plandiktatur in eine Marktdiktatur umkippt, unterstützen wir starke, parteipolitisch unabhängige Gewerkschaften und die wirksame Kontrolle wirtschaftlicher Grundsatzentscheidungen der Betriebsleitungen durch demokratisch gewählte Betriebsräte. Beschlüsse über Kapitalbeteiligungen ausländischer Firmen und andere Formen der ökonomischen Zusammenarbeit können nur mit Zustimmung des Betriebsrates herbeigeführt werden. Das Neue Forum tritt für das Recht auf Arbeit ein. Wirtschaftliche Rationalität darf nicht durch Arbeitslosigkeit erzwungen werden.

Nationale Frage

Das Neue Forum bekennt sich zu besonderen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten. Sie gründen sich auf die geschichtliche Einheit der deutschen Nation und können von der Vertragsgemeinschaft bis zur Konföderation ausgebaut werden. Der Zweistaatlichkeit Deutschlands liegt die Teilung Europas als Ergebnis des zweiten Weltkrieges zugrunde; sie kann erst in einer vertraglich geregelten gemeinsamen europäischen Friedensordnung vollständig überwunden werden.

Deutschlandpolitik soll als nationaler Beitrag zum Abbau der großen internationalen Konflikte betrieben werden. Die Annäherung der beiden deutschen Staaten findet allein in den Nachkriegsgrenzen statt und schränkt die Interessen von Drittstaaten nicht ein. Wir treten deshalb für die Entmilitarisierung beider deutscher Staaten und für die Auflösung der Militärblöcke ein.

Sofortprogramm

Für die nächsten Schritte der Umgestaltung der DDR stellt das Neue Forum folgende Sofortforderungen auf:

Die Regierung trifft grundsätzliche politische und wirtschaftliche Entscheidungen nur nach Konsultation und Zustimmung der Oppositionsgruppen.

Ausarbeitung, öffentliche Diskussion und Volksentscheid über eine neue Verfassung der DDR als Voraussetzung zur Überarbeitung der gesamten Gesetzlichkeit.

Durchführung der Kommunalwahlen vor der Volkskammerwahl.

Durchführung einer Verwaltungsreform zur Wiederherstellung der Länder und zur Verringerung der Anzahl der Kreise. Wirtschaftliche und verwaltungsrechtliche Stärkung der Kommunen.

Anerkennung der Bürgerräte in den Städten und Gemeinden, die sich zur Durchsetzung der Reformmaßnahmen und zur Sicherung der staatlichen Ordnung gebildet haben.

Bildung von Betriebsräten zur Aufsicht über Grundsatzentscheidungen der Betriebsleitungen und zur Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Stabilität.

Die Rechte der Betriebsgewerkschaftsleitungen gehen bis zur Wiederherstellung funktionierender unabhängiger Gewerkschaften an die Betriebsräte über.

Der Betriebsrat hat Vetorecht gegenüber Grundsatzentscheidungen der Betriebsleitung.

Ausarbeitung eines Betriebsverfassungsgesetzes. Partner der Betriebsleitungen in innerbetrieblichen Angelegenheiten sind künftig allein die Gewerkschaften und der Betriebsrat.

Auflösung der Parteiapparate und der Kampfgruppen in den Betrieben.

Anerkennung des Streikrechts.

Einführung der 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.

Einrichtung des öffentlich rechtlichen Status für die elektronischen Medien.

Erhöhung der Mindestrenten.

Offenlegung und Auflösung des Parteivermögens der SED-PDS, soweit es nicht aus Mitgliedsbeiträgen abgeleitet werden kann.

Einseitige Abrüstungsmaßnahmen, die eine drastische Senkung der Truppenstärke und der Militärausgaben bedeuten.

Einrichtung eines sozialen Zivildienstes.

Stopp des bisherigen Bauprogramms für Atomkraftwerke und Offenlegung seiner wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen.

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