piwik no script img

Demokratische Verlangsamung

■ Nach dem Besuch des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Havel in der DDR und der BRD

An Havels Blitzbesuch in München war zumindest dreierlei bemerkenswert: Erstens der Ort - ein Hinweis, daß es ohne Erinnerung an das vergangene Unrecht keinen Neuanfang zwischen den Deutschen und ihren Nachbarn gibt. Zweitens die Tatsache, daß er zuerst in Ost-Berlin war - kein Ausdruck der Paktloyalität, sondern eine Geste an die demokratische Bewegung der DDR, die den Aufbruch in der CSSR beflügelte. Drittens die Beharrlichkeit, mit der die tschechoslowakische Delegation durchsetzte, daß im Besuchsprogramm Zeit für Gespräche mit SPD und Grünen freigeschaufelt wurde - auch den Regierenden der Bundesrepublik wird kein politisches Monopol für ihr Land zugebilligt.

Die Grünen haben in Osteuropa höheren Kredit als zu Hause. Das war auch in dem kurzen Treffen in München spürbar. In der Bürgerrechtsbewegung ist nicht vergessen, wer sie in den harten Dissidenten-Zeiten unterstützte und wer sie damals eher als Störenfriede der Entspannungspolitik behandelte. Der andere Grund ist, daß die demokratischen Revolutionen in Osteuropa den grünen Ideen eine ungeahnte Aktualität verliehen haben: Ökologie, Gewaltfreiheit, radikale Abrüstung, Bürgerrechte sind zu tragenden Themen der Massenbewegung in der CSSR und anderswo geworden. Es sind die „grünen“ Essentials, die nach dem Zusammenbruch des Sozialismus eine neue west-östliche Gemeinsamkeit von unten begründen könnten - als Gegengewicht zur ökonomischen Hegemonie der EG wie zur Renaissance des Nationalismus. Noch ist nicht ausgemacht, wie die Architektur des künftigen europäischen Hauses aussehen und welche Dynamik die „deutsche Frage“ noch entwickeln wird. Havel hat dazu eine kluge Position bezogen: Das Ergebnis der deutsch-deutschen Annäherung ist offen, aber es sollten einige Regeln beachtet werden - vor allem die demokratische Verlangsamung und die europäische Einbindung dieses Prozesses. Die Umwälzungen in Osteuropa fordern eine neue, gesamteuropäische Solidarität ökonomischer Lastenausgleich, ökologische Zusammenarbeit und Abrüstung in großen Sprüngen inklusive.

Ralf Fücks

Der Autor ist Sprecher des Bundesvorstandes der Grünen. Er traf Havel am Dienstag in München.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen