: Nur der Vater blieb stehen
■ Eine Erzählung aus Kindertagen
Manfred Dechert
Der Vater schlägt den Buben nie. Ein einziges Mal hat er ihm einen Kinnhaken gegeben, als der Bub zu seiner Oma „Sau“ sagte. Hätte der Bub den Vater gehauen, für jedes „Sau“, „Depp“, „Arschloch“, das er zu ihm sagte, der Vater wäre nicht mehr vom Boden hochgekommen. Der Junge schämt sich, sein Vater hat ihn beim Onanieren gesehen. Der Vater sagte nichts, aber der Bub wurde rot. Seine Mutter hat dem Buben sogar deswegen einmal auf die Finger geschlagen.
Der Bub versteckt sich im Bienenhaus - seine Eltern schickten ihn in die Dorfkneipe, damit er unter Gesellschaft kommt. Der Bub hat Angst, die anderen lärmen und gröhlen, da kriegt er Angst. Im Bienenhaus wird ihm kalt, hoffentlich ist bald zehn Uhr, da muß er heim. Im Betrieb, einer Druckerei, arbeitet der Bub in der gleichen Abteilung wie sein Vater. Ein Kollege bringt eine Liste mit Schimpfwörtern in die Abteilung, alle lachen, der Bub überlegt, er will auch dazugehören, lustig sein. „Ficken“ hat er im Fernsehen gehört, er sagt das Wort, und er schreibt es unter die Liste. Sein Vater hat davon gehört, stellt den Buben zur Rede, vor den Kollegen: „Erlaub dir das nochmal, du Sau.“ Abends stellt der Vater den Buben zur Rede, wegen schlechter Leistungen, der Bub träumt zuviel, er soll etwas leisten. Der Bub soll den Führerschein machen, macht in der Fahrschule beim Fragebogen jedoch fünfzig Fehler - die Mutter kriegt einen Schreikrampf: „Wir haben kein Glück.“ Die Mutter kriegt immer einen Schreikrampf, schon damals, als der Bub eine nackte Frau auf Packpapier malte, ausschnitt und dann daneben einschlief. Der Bub ist gehemmt, abnorm, sagt der Nervenarzt und verschreibt Beruhigungsarznei. Um Anerkennung zu finden, dazuzugehören, hat der Bub getanzt, wird getanzt, Striptease vor Jugendlichen im Dorf, er der King, der Star, dann stand er nackt in der Stube, um seine Mutprobe erfolgreich zu bestehen. Es war ihm peinlich, aber dennoch hat er es geschafft.
Aber, im Dorf gehen Gerüchte schnell um, der Bub hat Angst, in der Dorfkneipe spricht ihn der Wirt an: „Na, du alte Sau!“ Die anderen erzählen, der Jugendschutz kann schon kommen, weil der Bub über achtzehn ist, dann kommt er ins Gefängnis, und die Gefangenen quälen und schlagen den Buben, es waren auch Kinder dabei, als der Bub tanzte. Der Bub denkt ans Aufhängen, und ob er dann in den Himmel kommt, weil Gefängnis und die Schande vor den Leuten erträgt er nicht. Jeden Tag schwitzt er im Betrieb und schaut verstohlen auf den Werkshof, ob da schon ein Polizeiwagen hält.
Wochen vergehen, der Bub hat Glück, schafft auch die Lehre mit vier, vier, wie der Ommer, spotten die Kollegen, der Sportler, der bei der Olympiade 76 sich mit letzter Kraft als dritter über die Ziellinie fallen läßt. Die Eltern wollen den Buben zur Bundeswehr haben, er soll spuren, marschieren, funktionieren, der Bub will nicht, verweigert, zum ersten Male richtig etwas verweigern; was den Eltern nicht gefällt. Manchmal betet der Bub zu seinem Gott, der hat ihm schon manches Mal geholfen, denkt der Bub. Manchmal betrinkt er sich in der Kneipe, dann kommt er heim, die Mutter schreit, der Vater bleibt im Türbogen stehen, der Bub übergibt sich, alles dreht sich, nur der Vater bleibt stehen. Der Vater schimpft wieder: „Sau, Vollsauf, Depp“, und der Bub bleibt mit dem Kopf im Nachttopf stecken, die Großmutter wird hysterisch, Mutter kriegt einen Schreikrampf, der Bub hat einen Schnapsrausch, den Misthaufen muß mann aufmachen, der Bub braucht Puhl, sonst verbrennt er innerlich. Wenn er halt tot wäre, denkt der Bub, seine Seele hätte Ruhe, das Leben ist die Hölle, und der Tod ist sicher sehr schön für den Buben, der Schlotter hat an der Druckwalze gelacht, als der Bub vom Frieden erzählte, und vom Herrgott, da hat der Schlotter gesagt, wie gut es für den Buben wäre, wenn er sich den ewigen Frieden gäbe. Sich eine Kugel in den Kopf schießen oder aufhängen, seine Beine zappeln, und ob das schnell geht, oder ob er röchelnd da oben hängt, bis er zum Herrgott kann. Mit seinem Hund geht er stundenlang durch den Wald, da ist Ruhe, Friede im Wald, und manchmal lacht der Bub vor sich hin und möchte montags nicht mehr zur Arbeit. Nach Landeck, in die pfälzische Psychiatrie, wollen die Eltern den Buben tun, als er sich eines Morgens am Boden wälzt, in die Psychiatrie soll er, wenn er nicht schon zur Bundeswehr will.
In der Dorfkneipe erzählen sie von den Frauen im Bordell, und der Bub steht mit leuchtenden Augen vorm Striptease -Lokal und hat Verlangen nach nackter Frauenhaut und Angst vor den Zuhältern. Von der Liebe weiß er nichts, das ist auch Sauerei, denkt der Bub, schon als Kind haben sie auf ihn gezeigt, weil er lieber mit Mädchen als mit Jungen spielte, Casanova, Weiberheld haben sie hinter ihm hergerufen, und er hat sich geschämt, und dann, als in ihm Verlangen hochkam, nach Mädchen, später, in der Pubertät, nach einer Freundin, hat ihm die Mutter gesagt: „Das ist Sünde, davon wird man krank, lerne für deinen Beruf, dann heiratet dich erst eine Frau, mit Geld, Sicherheit und gutem Beruf.“ Geheult hat der Bub oft als Kind, dann haben sie ihn ausgelacht, dann hat er aufgehört zu heulen, keiner soll ihn schwach sehen, sondern trinkfest, geeicht haben sie ihn, als er dann heimkam, wo sich alles drehte, nur der schimpfende Vater blieb stehen, und wenn er da wirklich eines Tages in der Scheune hängen würde, der Bub, und es würde ihm vor den Augen schwindlig werden, und der Vater käme dazu, dann würde der Vater auch als ainziger stehenbleiben und er würde schimpfen über den Saububen, der sich davonstiehlt, weil, dann hat er keinen mehr zum Anschreien.
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