: Ein tiefer Schluck Ekel
■ Samuel Beckett über Rainer Maria Rilke - Eine deutsche Erstveröffentlichung
Malte Laurids Brigge war eine Art gescheiterter Edmond Teste, gescheitert an zuviel Umgang mit Svevos Zeno und Gides Lafcadio, ein Teste, der es nicht schaffte, „die Marionette zu töten“, ein Teste, der von Zeit zu Zeit an die Oberfläche seiner „Variation“ steigen mußte, um Luft zu schnappen. Man fühlt, daß es so auch um Rilke bestellt sein muß, immer wieder taucht er auf, um einen tiefen Schluck Ekel zu nehmen, der seinen Ichgott wiederherstellt und ihn selbst für die Entbehrungen dieser Gottheit entschädigt
-bis zum nächsten Mal.
Daher die atemlose Überspanntheit so vieler seiner Verse (er kann mit seinem Gefühl nicht an sich halten) und die Überbetonung der Einsamkeit, die er nicht zu seinem Element machen kann. In den beiden The Solitary (Der Einsame) betitelten aus Leishmanns Auswahl - das eine stammt aus dem Buch der Bilder und klingt, als hätte Maeterlinck ihm den Kammerton gegeben, das andere stammt aus den im Banne Rodins geschriebenen Neuen Gedichten - frönt er in krassesten Antithesen seinem Sinn fürs Inkommensurable: „I move among these human vegetables....But my horizon's full of phantasy.“ (Die deutschen Originalverse: „so bin ich bei den ewig Einheimischen....mir aber ist die Ferne voll Figur“, A.d.Ü.) Es ist der Protest eines Kindes, das - wie Heine - zu früh erfahren mußte, wie Fantasie „die menschlichen Gemüse“ heimsucht (ein Ausdruck übrigens, der den ewig Einheimischen des Originals kaum gerecht wird) und darum die Ernüchterung über die in diesem Naturprodukt wuchernden Horizonte nicht einmal aufschieben kann. Diese Ernüchterung ist in der Fassung aus den Neuen Gedichten treulich verzeichnet: „No, my heart shall turn into a tower...“ (der deutsche Originalvers: „NEIN: ein Turm soll sein aus meinem Herzen...“, A.d.Ü.) Das mystische, der blauen Blume so teure Herz, versteinert! Das ist nach dem Stundenbuch, in dem Gott der Turm ist und das Herz was auch immer beliebt, wahrhaft die Sprache der Apostasie:
„Ich kreise um Gott,
um den uralten Turm,
Und ich kreise jahrtausendelang;
Und ich weiß noch nicht;
ich bin ein Falke, ein Sturm,
Oder ein großer Gesang.“
So ein Tumult aus Selbsttäuschung und naivem Überdruß wird nicht würdiger durch Rilkes ersten Glaubenssatz, nach dem Rilke und Gott austauschbar sind:
„Mit meinem Reifen
reift
dein Reich“
Hier gibt es keinen Standpunkt, keine Möglichkeit eines Standpunkts, keine Fähigkeit dazu. Unablässig wechselt Rilke seinen Ort, wie Gide, wenn auch aus anderen Ursachen; nicht weil ihm die Lauge am Schinken brennt (oh! im edelsten Sinn des Wortes), sondern weil er nicht stillhalten kann. Ihm flattern die Nerven, eine Unordnung, die, wie Rilke gelegentlich, hochrangige Gedichte eingeben kann. Aber warum muß man diese Reizbarkeit gleich Gott, Ego, Orpheus und so weiter nennen? Für solche Kindereien scheinen deutsche Dichter besonders anfällig. Klopstock litt zeit seines Lebens unter Nervosität und nannte sie den Messias.
Die Übersetzung stört am wenigsten, wenn sie sich so nahe wie möglich an ihren Text hält, wie zum Beispiel in dem Gedicht, das mit „Again and again“ beginnt. Die zahlreichen Abweichungen sind unverantwortlich, das heißt ineffektiv, so wenn „Keine Vision von fremden Ländern“ als „No dream of surf of southern coast-lines glancing“ Blüten treibt, wenn „Lieder“ zu „blithe songs“ befördert werden und die handfeste Hysterie von
„Männer und Frauen; Männer, Männer, Frauen
Und Kinder....“
abgemildert wird zu
„Men, women, women, men in black and gray,
And children with their bright diversity....“.
Poems. By Rainer Maria Rilke. Translated from the German by J.B. Leishmann. (Hogarth Press.) 3s. 6d. net.
Übersetzung: Horst Helwa
Zuerst erschienen in 'The Criterion‘, Band 13 (1934), Seite 704
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