: Michail Gorbatschow steckt in der Klemme
Nationalitätenprobleme überschatten wirtschaftliche Schwierigkeiten / Litauen als Vorreiter / Es geht in Moskau und Vilnius weniger um Nationalismus als um Machtinteressen / Friedlicher Ungehorsam bringt der Zentrale mehr Probleme als der Aufruhr in Azerbaidschan ■ Von Erhard Stölting
Die Demonstrationen an der Grenze zwischen der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan und dem Iran sind ebenso besorgniserregend, wie die nach dem Sturz Ceausescus virulent werdenden Anschlußbestrebungen in der Sowjetrepublik Moldawien, deren Bevölkerung überwiegend rumänischsprachig ist. Die Gefahren, die der Sowjetunion aus diesen Entwicklungen erwachsen, überschatten gegenwärtig sogar die Probleme der Versorgung mit Energie und Nahrungsmitteln, die ebenfalls Gegenstand der Beratungen des ZK der KPdSU sind.
Am Donnerstag hatte das 19-köpfige Politbüro der litauischen KP mit Gorbatschow und seinen engsten Mitarbeitern konferiert. Ihr Ziel war es, die litauischen Genossen zu überreden, den Trennungsbeschluß bis zum 28. Parteitag der KPdSU im Oktober zurückzustellen, auf dem die Rolle der KPdSU und die Beziehungen zu den kommunistischen Parteien der Teilrepubliken neu geregelt werden. Zum jetzigen Zeitpunkt jedoch sei der Trennungsbeschluß unannehmbar. Den gleichen Parteitag brachten auch die Litauer ins Spiel: Gorbatschow solle seine Bedenken bis zum Parteitag zurückstellen.
Eine Vermittlung war nicht möglich. Wie wichtig eine Lösung jedoch ist, zeigt sich daran, daß auch das ZK der KP Estlands über eine etwaige Loslösung von der KPdSU beraten will.
Die Kompromißlosigkeit sowohl der Führung in Moskau, wie der in Vilnius hat ihren Grund vor allem in den unterschiedlichen politischen Zwängen, unter denen beide Seiten stehen. Aus Moskauer Sicht ist die Unabhängigkeitserklärung der litauischen KP ein Schritt zur Loslösung dieser Teilrepublik aus der UdSSR. Damit wäre ein Präzedenzfall für die anderen nichrussischen Sowjetrepubliken geschaffen.
Eine Auflösung der Union ist aber im Zentralkomitee der KPdSU nicht mehrheitsfähig. Gorbatschow setzt sich daher der Gefahr einer Abwahl von seinem Parteiamt aus, wenn er an dieser Stelle nachgibt.
Am Vorgehen der litauischen Parteiführung kann andererseits deutlich werden, daß auch ihre Kompromißlosigkeit weniger in nationalistischer Starrköpfigkeit wurzelt, als in politischem Überlebensstreben. Angesichts den wachsenden demokratischen und nationalen Bestrebungen hatte die kommunistische Partei in Litauen noch Ende September 1988 mit Härte reagiert. Diesen Makel konnte auch der im November 1988 neugewählte Parteichef Algirdas Brauzaskas nicht vollkommen wegwischen. Deutlich wurde das bei den Wahlen zum Kongreß der Volksdeputierten im Frühjahr 1989. Die litauische Volksfront Sajudis errang in ihnen insofern einen triumphalen Erfolg, als überwiegend solche Kandidaten gewählt wurden, für die sie eine Empfehlung ausgesprochen hatte. Brauzaskas und sein Stellvertreter, der Russe Wladimir Berjosow, allerdings hatten das Vertrauen der Volksfront gewonnen. In der folgenden Zeit unterstützte die litauische KP die nationalen Bestrebungen.
So beschloß der Oberste Sowjet Litauens gegen eine Moskauer Nichtanerkennung am 18. Mai die Souveränität des Landes. Alle Gesetze der Zentrale müssen seither von der Legislative der Republik ratifiziert werden, um Gültigkeit zu erhalten. Die litauische Parteiführung testete so die Grenzen der Moskauer Nachgiebigkeit aus, bemühte sich aber gleichzeitig, einen Bruch mit Moskau und eine Gefährdung der Position Gorbatschows zu vermeiden. Mit dieser Linie des „politischen Realismus“ geriet aber die litauische Parteiführung wiederum in einen Konflikt mit Sajudis und damit in die Gefahr einer politischen Marginalisierung. Im Oktober 1989 wurde, um das verlorene Terrain wiederzugewinnen, ein Parteitag für den 19. Dezember beschlossen, auf dem sich die litauische KP als eigenständige Partei aus der KPdSU verabschiedete.
Gorbatschow griff diese Sezession von Anfang an heftig an. Einen Einsatz des Militärs schloß er jedoch in den baltischen Republiken aus. Anders als in Usbekistan oder in Nagorny Karabach handele es sich nicht um Aufruhr, sondern um friedliche, wenn auch unakzeptable Bestrebungen breiter Bevölkerungsschichten.
Der friedliche und massenhafte Ungehorsam stellt die Moskauer Zentrale vor größere Schwierigkeiten als der Aufruhr in Aserbaidschan. Obwohl die Forderung nach einer Grenzöffnung außerordentlich gewaltsam vorgetragen werden, kann sich die Zentrale auf die internationale Konstellation berufen. Eine liberalere Grenzregelung erscheint nicht unmöglich. Eine Vereinigung beider Teile Aserbaidschans, des sowjetischen und des iranischen, die die aserbaidschanische Volksfront anstrebt, bedürfte auch der - unwahrscheinlichen
-Zustimmung des südlichen Nachbarstaates. Solle dieses Ziel mit gewaltsamen Mittel angestrebt werden, müßte die Volksfront Aserbaidschans einen Zweifrontenkrieg führen. Gorbatschow könnte hier einen Truppeneinsatz innenpolitisch eher rechtfertigen als in den baltischen Republiken.
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