Tolerierte Honecker die Lesbenehe?

■ Entdeckungen im „Statistischen Jahrbuch 1989“ / Ein Streifzug durch das unbekannte, unterschätzte und tierische Berlin

Schicksale am Rande der Großstadt - und ihre bisweilen tragischen Seiten: Sie lebt ganz allein, ist die letzte ihrer Art - und nicht einmal ihre geregelte Berufsausübung ist gesichert. Sie lebt im Stadtbezirk Wedding (149.555 menschliche Seelen, acht Pferde, vier Schafe, zehn Hühner, sechs Gänse). Gäbe es das Statistische Jahrbuch 1989, Kostenpunkt: 55 Mark, nicht, würde keiner von ihr Kenntnis nehmen. Keiner würde sich überhaupt Gedanken machen, wie es um ihre berufliche Perspektive in solcher Isolation steht. Die Rede ist von Weddings letzter Sau, amtlich zur Kenntnis genommen im KapitelX., Land- und Forstwirtschaft, Seite 205, Spalte 2. Registriert als Zuchtsau. Die Spalten neben ihr bleiben frei: Zuchteber: -, Mastschweine: -. Eberlos sieht auch das Leben der einzigen, ebenso isolierten Tempelhofer Kollegin aus. Diese allerdings bewohnt den Bezirk zusammen mit 46 Schlacht- und Mastschweinen. Auch kein Leben für eine Mutter - wenn man sieht, wohin sich der Nachwuchs entwickelt. Gemischtgeschlechtlicher geht's da schon im benachbarten Neukölln zu: Zwei Zuchteber verrichten zusammen mit zwölf Zuchtsauen im bevölkerungsreichsten Bezirk munter ihren Dienst...

Alles aber kein Vergleich zum Schweineleben in Ost-Berlin. Dort leben rund 27.000 Säue. In enger Nachbarschaft mit 932 Pferden, 225.000 Legehennen und 4.5114 Rindern. Tragisch dort: Noch vor dem Niedergang des real Existierenden ging der Milchout zurück: Unglückliche Kühe verweigerten pro Produzentin in den letzten jahren mehrere hundert Kilogramm. Quollen 1985 noch 5.474 kg aus dem einzelnen kuh- und volkseigenen Euter - waren es 1987 nur noch 5.253 Kilogramm. Ein Verweigerungsphänomen, um das man sich um Rahmen von Glasnost nun schleunigst an runden Stalltischen bemühen sollte.

„Wir sind das Volk“ - diese derzeit überaus populäre Parole summen in Ost-Berlin auch 8.500 Bienenvölker, ganz ohne reaktionäre Wiedervereinigungsgedanken - und sogar bei steigender Tendenz der Völker! Womit wir beim menschlichen Berliner wären. Vom Kleinkind bis zur Oma verzehrt er oder sie pro Jahr 38 Gramm Fisch aus Spree, Havel und einheimischen Seen. Alle zusammen immerhin 77.449 Kilogramm. Ob Ostberliner ebenso wagemutig solcherlei Getier verspeisen, ist nicht bekannt. Und auch nicht, ob sie mit ihren PKWs aneinandergereiht eine Blechschlange von 3.165 Kilometern - also bis weit in den Atlantik hinein - auf die Räder brächten. Die Westberliner (631.358 PKWs bei steigender Tendenz) könnten Wannsee und Tegelersee immerhin zubetonieren und dann bis zum letzten Quadratzentimeter zuparken! Ebensowenig bekannt ist die Zahl der besten Freunde der Ostberliner. Im Westteil kläffen steuerrechtlich registriert 80.549 Hunde. Einer für 22,9 Einwohner. Steueraufkommen: 12,4 Millionen. Umgerechnet heißt dies 20 Pfennig an den Fiskus je Haufen bei zweimal täglich fester Verrichtung.

Liebe erstreckt sich in Berlin jedoch nicht ausschließlich auf das Tier. Zwar leben 550.000 der 2.012.790 WestberlinerInnen mittlerweile lieber ohne menschliche Artgenossen alleine in ihren Wohnungen, ganz stirbt die Zweisamkeit jedoch nicht aus. Immerhin zehn Lebendgeborene bringen 1.000 WestberlinerInnen pro Jahr noch zusammen. Fruchtbarer ist der Osten: Dort sind es 15 neue DDR-Bürger. Ob die größere Produktivität an der Überlegenheit des Sozialismus liegt oder an der banalen Tatsache, daß sich die 1.260.921 Einwohner tags und nachts 1.159 Gaststätten (inklusive Werkskantinen) ihr Bier erkämpfen müßten, gingen sie überhaupt aus, bleibt im Jahrbuch offen. Besser dran und deshalb zuchtfauler sind die Westerliner: Schultheiss und andere Flüssigkeiten fließen in 5.200 Etablissements. Klar, daß deswegen auch 48 Ehepaare (Ost-Berlin: ca. 25) zwischen Spandau und Neukölln für immer ihre Ehebetten verlassen, während in derselben Zeit und Region sich 100 das Jawort geben.

Völlig unklar bleibt auch im Jahrbuch, warum 1987 in Ost -Berlin 11.477 Männer 11.847 Frauen geheiratet haben sollen (siehe Seite 4 des Anhangs). Tolerierte Honecker heimlich die Lesbenehe?

Thomas Kuppinger