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Frühstück, Sex und Fingernagel

■ Was tut unser Körper, während wir glauben, unseren Gefühlen freien Lauf zu lassen?

David Bodanis

Der Mühe folgt der Lohn buchstäblich auf dem Fuße. Ein kräftiges und gesundes Frühstück bildet einen natürlichen Gegenpol zur durch einen morgendlichen Lauf bewirkten tugendhaften Ermüdung. Die Gesundheit allerdings wird von dem Augenblick an rücksichtslos in Frage gestellt, da die Nahrung in den Mund gelangt.

Dort tummelt sich bei den meisten von uns eine ungeheure Vielfalt von Bakterien, Viren und Pilzen, einschließlich solcher mit so zauberhaft klingenden Namen wie: streptococci viridans, corynebacteria, bacteroides, fusobacteria, diplococci pneumoniae, hemphili influenzae, bisweilen auch streptococci pyogenes und auch neisseriae meningitides. Es gibt weit, weit mehr, und ihre Gesamtzahl liegt deutlich über hundert Millionen.

Niemand kann ihnen entgehen. Selbst wer sich eine halbe Stunde vor dem Frühstück die Zähne gründlich putzt, hat ihre Zahl nur unerheblich vermindert, und eine der Hauptursachen für die Entstehung von Zahnlöchern bei Kindern sind tatsächlich Bakterien, die sich in ungeheurer Zahl auf deren Zahnbürsten vermehrt haben!

Diese Eindringlinge sind zu klein, als daß sie dem zufälligen Blick eines Gegenübers am Frühstückstisch erkennbar wären, und daher wohl ahnen nur die wenigsten Menschen etwas von dem Gewimmel in ihrer Mundhöhle. Das ist auch gut so, denn es würde lediglich äußerst unangenehme Reaktionen hervorrufen und möglicherweise so weit führen, daß sich manche Menschen weigerten, jemals wieder Nahrung durch die verseuchte Körperöffnung zu sich zu nehmen.

(„Entschuldige bitte, Susanne, aber du scheinst Besuch zu haben.“

„Wieso?“

„Sieh mal in deinem Mund nach.“

„Iihh!“)

So verständlich eine solche Haltung ist, so übertrieben wäre sie. Die Millionen mikroskopisch kleiner Bewohner der Mundhöhle sind zum größten Teil gänzlich harmlos, leben friedlich inmitten der Zähne im Speichel und rufen nur dann Schäden hervor, wenn sie sich über das normale Maß hinaus vermehren. Jedes feuchte Gewebe mit dem richtigen Säuregehalt bietet Bakterien einen Nährboden: Auch in der Scheide finden wir eine unglaubliche Anzahl aktiver Bakterien. Mundbakterien treten gemeinsam mit einer ganzen Armee winziger Geschöpfe auf, die sich über das ganze Gesicht ausbreiten, und da jedes dieser Lebewesen seine eigene Nische hat, findet keins von ihnen so viel Platz, wie nötig wäre, um sich so zu vermehren, daß es Schaden anrichten könnte.

Diese Nischen können durchaus genau definiert sein. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Gemeinwirtschaft, die sich unabhängig vom Gesundheitszustand und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht bei etwa jedem zehnten Europäer und Amerikaner finden dürfte, ist eine kleine Milbe, die sich den Ansatz unserer Augenwimpern zur Heimstatt auserwählt hat.

Diese Tierchen sind dort mit dem Kopf voran eingekeilt und sehen aus wie kleine Krokodile mit acht Beinen und einem sich windenden Rumpf; das Männchen zeichnet sich durch den Besitz zweier Penisse aus, die beide steif vom Rücken abstehen, während das Weibchen mit dazu passenden Öffnungen hoch am Vorderkörper ausgestattet ist. Die Anwesenheit dieser Milben sorgt dafür, daß sich an unseren Wimpern keine anderen vom Mund aus aufwärts wandernden Lebewesen festsetzen können und vermindert damit die Aussicht, daß sich diese in gefährlicher Weise vermehren.

All diese auf ihre Unabhängigkeit bedachten Wesen leben in unserem Mund und auf unserem Gesicht, vermehren sich und eilen dort hin und her, ohne daß wir auch nur das Geringste davon merken. Daher denken wir gewöhnlich beim Essen als allererstes an das kräftige Mahlen unserer Zähne, aber auch dabei geht es um mehr, als wir glauben. Selbst wenn wir noch so sachte in ein Stück leicht geröstetes Brot beißen, schwingen dabei die Zähne wie eine angerissene Gitarrensaite, während ihre aus Schmelz bestehende äußere Umhüllung gegen das im Zahnmark befindliche weichere Gewebe drückt. Nachdem der Druck des Bisses aufgehört hat, federt sie vom Kieferknochen zurück, in dem der Zahn sitzt. Beim kräftigen Zubeißen kann diese Schwingbewegung in allen zweiunddreißig Zähnen gleichzeitig auftreten.

Die von den Zähnen hervorgerufenen Geräusche sind bei Kindern noch spannender, denn in ihrem Mund findet sich bisweilen eine Gesamtzahl von zweiundfünfzig Zähnen, von denen die meisten noch geduldig unter den Milchzähnen sitzen. Ein kräftiger Biß, und alle zweiundfünfzig geraten ins Schwingen - eine wahre Zahnsymphonie, von der wir wegen unseres unvollkommenen Gehörs nichts mitbekommen, die sich aber mit Hilfe entsprechend angebrachter Mikrophone ohne weiteres aufzeichnen läßt.

Frühere Forscher verfügten nicht über die Ausrüstung, die nötig ist, um solchen Klängen nachzuspüren, doch sei auch gesagt, daß sich die meisten nur am Rande um die im dunkeln liegenden Geheimnisse der Zähne kümmerten. Beispielsweise hat der sonst so sorgfältige Aristoteles geschrieben, Frauen besäßen weniger Zähne als Männer. Den Schnitzer hätte er sich ganz leicht ersparen können: Er hätte nur seine Frau aufzufordern brauchen, den Mund aufzumachen, damit er nachzählen konnte.

Kauen ist nur dann sinnvoll, wenn sich etwas im Mund befindet. Das wird oft für selbstverständlich gehalten, aber die Nahrung dorthin zu bringen und sie dort zu halten, ist nicht nur ein komplexer, sondern auch ein zeitaufwendiger Vorgang. Bei einem durchschnittlichen Frühstück von zwölf Minuten Dauer verbringen viele Menschen ein Sechstel der Zeit damit, daß sie ihre Arme vor- und zurückbewegen, als vollführten sie ein eigentümliches Schattenboxen. In Wirklichkeit transportieren sie mit drei Dutzend jeweils vier Sekunden dauernden Hebebewegungen ihren Nahrungsbedarf zum Mund.

Es braucht viel Übung, einfach nach einem Glas mit Vitamin -C-haltigem Apfelsinensaft zu greifen. Das läßt sich überdeutlich daran erkennen, wie wonnevoll ein Kleinkind sein Glas umschüttet, statt es festzuhalten. Bei einem fünf Monate alten Kind dauert es sechzehneinhalb Sekunden, die sich für ungeduldige Eltern wie eine Ewigkeit dehnen, um nach etwas zu greifen, das sich auf dem Tisch vor ihm befindet, und dazu braucht es ein großes freies Betätigungsfeld für seine Arme.

Mit sieben oder acht Monaten ist seine räumliche Wahrnehmungsfähigkeit schon etwas besser entwickelt, doch greifen die meisten Kleinkinder in diesem Alter in einem zögernden Bogen abwärts. Dabei schießen sie häufig über das Ziel hinaus, weichen aber immerhin Hindernissen auf dem Weg wie Tellern oder darauf befindlicher Nahrung aus. Mit elf Monaten können sie gerade und zielgerichtet greifen und nach einer nur kurzen Pause des Zögerns bereits binnen zwei oder drei Sekunden das gewünschte Glas mit dem Fruchtsaft in der Hand halten - eine deutlich verbesserte Leistung.

Ein Erwachsener nimmt ein Glas mit einer kaum wahrnehmbaren Pause auf und braucht daher weniger als zwei Sekunden dafür, ein Wert, der beachtlich beständig bleibt, ob raffiniertes Bankett oder heimliche Griffe zwischen den Mahlzeiten.

Hat die Hand erst einmal den Gegenstand der Begierde erreicht, in diesem Fall das Glas mit frisch ausgepreßtem Apfelsinensaft (da unser Körper zu rund drei Fünfteln aus Wasser besteht, sind wir als Vorsichtsmaßnahme gegen das Austrocknen beim Frühstück immer als erstes auf etwas Trinkbares erpicht), bleibt noch die Notwendigkeit, es zu ergreifen. Das sicherste Verfahren besteht darin, den Daumen um die eine und die Finger um die andere Seite zu legen. Aber angeboren ist das nicht.

Ein fünf Monate altes Kind, das mit der Hand seinen Saftbecher erreicht hat, braucht im Durchschnitt elfeinhalb Sekunden, um zuerst den kleinen Finger, so weit es das kann, um dessen eine Seite zu legen, und dann alle anderen ungeordnet folgen zu lassen, bis es schließlich mit der Unterkante der Handfläche das hintere Ende des Bechers hochdrückt. Selbst dann hält es ihn keineswegs sicher, auch wenn die großen Speichelblasen, die es angesichts der erbrachten Leistung voll Wonne hervorsprudelt, das vergessen lassen mögen.

Wie immer ist Gedankenlosigkeit der Preis für Eile, und ein Erwachsener, der beim Frühstück sein Glas in durchschnittlich einer Drittelsekunde zu ergreifen vermag, verschwendet wohl keinen Augenblick des stolzen Gedenkens auf diese Leistung. Das aber sollte er tun, denn bis sie zur Selbstverständlichkeit wurde, waren viele Schritte beim mechanischen Zusammenwirken erforderlich. Geholfen hat dabei ein selten lobend hervorgehobenes Überbleibsel aus unserer Reptilienvergangenheit. Einst waren es scheußliche Schuppen, jetzt sind es die fein gepflegten Fingernägel.

Ohne den festen Halt, den die Nägel bieten, würde die Haut an den Fingerspitzen auf den dünnen Knöchelchen hin- und herrutschen, und als Ergebnis würde sich das Frühstücksglas munter wie ein Karussell um seine Achsen drehen, während sich die Hand um es schlösse und sich schwerfällig wieder von ihm löste; eine bewundernswerte Leistung, die aber im Alltag keineswegs von besonderem Wert wäre.

Auch in anderer Hinsicht sind wir auf unsere Nägel angewiesen. Sie dienen als Stütze für die fleischigen Teile des Fingers, mit denen wir greifen. Da sie deutlich breiter sind als die unter ihnen liegenden Knochen, verfügen sie über die Fläche, die nötig ist, um so viel Reibung zu erzeugen, daß sich das angehobene Glas nicht wieder aus dem Griff löst und auf den Tisch zurückfällt.

Verstärkt wird die Reibung an den Fingerspitzen durch wellenförmige Leisten auf ihrer Oberfläche. Diese Leisten, die unsere Fingerabdrücke hervorbringen, bestehen aus der Substanz, die auch dafür sorgt, daß sich die Zunge des Menschen rauh und die der Katze geradezu wie ein Reibeisen anfühlt.

Wie Gürtelreifen auf einer glatten Straße drücken sie sich an den Fingerkuppen platt, um die Auflagefläche und damit die Reibung zu vergrößern. Unter ihnen verschieben sich die fleischigen Kissen der Fingerkuppen gerade so viel - hier ein bißchen nach innen, um die Ränder herum ein bißchen nach außen -, daß ein möglichst fester Griff bewirkt wird.

Es beginnt jedesmal auf dieselbe Weise: Eine Mischung aus optischen Reizen, Gerüchen und Erinnerungen durcheilt den Stromkreis der Nervenzellen im ganzen Körper und landet schließlich durcheinanderwirbelnd in einer Ansammlung auf besondere Weise „verdrahteter“ Nervenzellen, die ringförmig nahe der Unterseite des Gehirns an sicherer Stelle angeordnet sind und die wir das Limbische System nennen. Man hat festgestellt, daß dessen Erregung bei Tieren Atem und Herzschlag beschleunigt sowie bedeutungsvolle Bewegungen der Schultern und Hände, Grimassenschneiden, Erektionen, soziales Körperpflegeverhalten, Magengeräusche und bisweilen impulsive, wenn auch zögerliche Aggressionen hervorruft. Bei uns kultivierteren Menschen hingegen schickt es lediglich in aller Eile Signale ans Gehirn, die das entsprechende Empfinden auslösen, und, sofern Gespräch und sonstiges Verhalten in die richtige Richtung gehen, auch das gewünschte Ergebnis bewirken.

Als erstes erkennt man sexuelle Begierde stets an den Augen. Das hat seinen einfachen Grund darin, daß man sie als nach vorn verlagerten Teil des Gehirns betrachten kann, den die Augäpfel daran hindern, aus dem Kopf zu tropfen. Bei sexueller Erregung steigt der Blutdruck gleichmäßig an, und die Pupillen öffnen sich weit. In weniger als einer Fünftelsekunde können sie anfangen sich zu vergrößern und, von einer anfänglichen Stecknadelkopfgröße ausgehend (das entspricht einem Durchmesser von etwa zwei Millimetern), einen solchen von acht bis neun Millimetern erreichen. Dafür sorgen winzige Muskeln in der Iris unserer Auges, die wie die Speichen von Wagenrädern aussehen und bis zu den Pupillen reichen. (Da andere starke Empfindungen das ebenfalls bewirken können, wenn auch nicht im selben Ausmaß, trugen chinesische Jadehändler früher bei Jadeauktionen häufig dunkle Brillen, um ihr Interesse nicht durch die Vergrößerung ihrer Pupillen zu verraten.)

Mit der Erweiterung der Pupillen geht der Versuch unserer jetzt überempfindlichen Augen einher, mit reflexartigen Bewegungen den Gegenstand unserer Begierde vollständig zu erfassen. Dazu vollführt der Augapfel mit Hilfe sechs kräftiger Muskeln in der Augenhöhle starke ruckartige Bewegungen, und zwar weit rascher, als das eine noch so schnelle Kopfbewegung vermöchte. Die übliche Blinzelgeschwindigkeit von etwa sechs bis sieben Lidschlägen pro Sekunde ist bei diesem „Suchscheinwerfer„-Verhalten des Auges deutlich vermindert, denn die Pupille möchte so viel wie möglich aufnehmen. Damit der Zugluft, Staub und anderen Luftpartikeln ausgesetzte Augapfel unter solchen Umständen nicht austrocknet, pumpt ein automatisch wirkender Mechanismus die unter der Haut unmittelbar neben den Augen eingekeilten kleinen Tränensäckchen leer, womit Tränenflüssigkeit fein über die Augäpfel versprüht wird, etwa so, wie die Scheibenwaschanlage eines Autos Waschflüssigkeit auf die Windschutzscheibe spritzt.

Dies Feuchtwerden des Auges bei Anfällen von Leidenschaft bewirkt den verschleierten Blick Verliebter. Die Erweiterung der Pupillen läßt sich weniger deutlich erkennen, obwohl die meisten Erwachsenen mit sexueller Erfahrung sie zumindest unterschwellig wahrzunehmen scheinen. Man hat Männern zwei identische Aufnahmen einer Frau gezeigt, wobei das eine Bild so retuschiert wurde, daß auf ihm die Pupillen größer waren als auf dem anderen. Nahezu alle Probanden bevorzugten das zweite Bild, ohne einen Grund dafür nennen zu können. Diese Zusammenhänge müssen wohl adligen Damen aus der Zeit der italienischen Renaissance bekannt gewesen sein, denn sie tropften sich häufig einen Extrakt des Nachtschattengewächses Belladonna auf die Augen, worauf sich die Pupillen vergrößerten, was die Damen ihren Bewunderern begehrenswerter erscheinen ließ. Doch wollten sie auf diese Weise wohl nicht nur ihre Attraktivität steigern, denn die Forscher merkten bei der Durchführung des oben beschriebenen Versuchs, daß sich die Pupillen eines Mannes immer erweiterten, wenn er sagte, ihm sei das zweite Bild lieber, also das mit der Frau, deren Pupillen vergrößert waren. Diese Reaktion auf die Reaktion führt zu einer äußerst verfeinerten Körpersprache, die besonders gut wahrzunehmen vermag, wer die Lichtempfindlichkeit seiner Augen mit Hilfe von Belladonna gesteigert hat, wie es die lockenden Renaissance-Damen Italiens taten.

Die armen Menschen, die auf ihren Nägeln kauen, verdienen unser Mitleid. So sehr sie zerren, ziehen und beißen, sie gewinnen ihren Kampf fast nie und sind, in ihre erniedrigende Gewohnheit versunken, jeden Augenblick bereit aufzuhören, sobald jemand das Zimmer betritt.

Warum tun sie es überhaupt? Weil das Telefon zu oft klingelt, der Aufzug zu lange auf sich warten läßt, der Computer nicht richtig funktioniert oder sie sich einbilden, jemand habe sich über sie lustig gemacht. Sie tun es, weil in unserer Leistungsgesellschaft zu viel auf uns einstürmt, mit dem das schwächliche Super-Ego nicht fertig wird, und sie haben im ganzen Lande Millionen unbesungene Leidensgefährten. Vorgebeugt übersäen sie den Fußboden mit den Ergebnissen ihrer durch Streß hervorgerufenen geheimen Schande.

Außerdem tun sie es, weil sich der menschliche Fingernagel einfach glänzend als Mittel eignet, etwas gegen den allgegenwärtigen Streß zu unternehmen. Der Hintergrund sieht etwa so aus:

Frühe Wirbeltiere waren nahezu vollständig mit dicken Schuppen bedeckt, wie es noch heute viele Fische sind, aber von diesem unmittelbaren Erbe sind uns lediglich gewisse Einzelheiten geblieben wie beispielsweise der Knochenschädel und das bis nahezu an die Hautoberfläche reichende Schulterblatt. Bei einigen der frühen Reptilien wurden die Schuppen im Laufe der Zeit dünner, eine Entwicklung, die bei den Vögeln weitergegangen ist und beim Menschen an den meisten Stellen zur Entstehung feiner Haare geführt hat.

Nur unsere Fingernägel haben diese Entwicklung nicht vollständig mitgemacht. Sie sind keine Schuppen mehr wie einst bei den Urreptilien, aber auch noch keine weichen Haare. Sie bestehen zu sechsundneunzig Prozent aus reinem Protein (und sind damit viermal eiweißreicher als ein erstklassiges Steak). In Gestalt länglicher Fasern unmittelbar unter der Nagelhaut hervorgekommen, wachsen sie mit einer Geschwindigkeit von durchschnittlich zehn Zentimetern pro Jahr, so daß sie nach siebzehn Jahren die Körpergröße eines durchschnittlichen Menschen erreichen würden. Das Wachstum erfolgt schneller am Zeigefinger als am Daunen, rascher an der rechten als an der linken Hand (bei Linkshändern ist es umgekehrt).

Man sollte annehmen, daß unsere Zähne ohne weiteres imstande wären, beliebig viel von diesen Reptilienüberbleibseln an unseren Fingerspitzen abzureißen. Immerhin sind sie mit einer Schicht aus Schmelz bedeckt, das härteste Material im Körper, und können kraft der Kiefermuskeln einen Druck von beachtlichen vierzehn Kilogramm pro Quadratzentimeter ausüben. Da sich damit der Knochen in einem kräftigen Hühnerflügel krachend durchbeißen läßt, müßte es auf jeden Fall auch für die lächerlichen Eiweißfasern genügen, aus denen die Fingenägel bestehen.

Die Zähne allerdings wissen nichts von der Art, wie sich die Nägel drehen und winden, wenn sie zubeißen; der Kampf ist keineswegs so ungleich, wie man annehmen könnte. Das Verdrehen der Nägel leitet die Kraft des Zahns über deren ganze Länge, und so bleibt kaum etwas, das er an der Auftreffstelle durchschneiden kann. Man muß bedenken, daß menschlische Nägel eine vierzigmal höhere Bruchfestigkeit als Ziegel oder Natursteine besitzen.

Natürlich wäre es am einfachsten, ein zubeißender Zahn ginge rasch zu Werke, wenn der Nagel nicht damit rechnet - bevor er sich widerspenstig drehen und winden kann. Warum also lassen sich eingefleischte Nägelkauer diese Erfolgsmöglichkeit entgehen, diesen einzigen Augenblick, in dem ein trockener und brüchiger Nagel am ehesten den Angriffen des Mundes erliegen muß? Warum speicheln sie das Ziel ihres Angriffs ein, drehen Nägel und sogar ganze Fingerspitzen im Mund herum, knapsen ein bißchen hier und fetzen ein wenig da, statt auf die wissenschaftliche Weise vorzugehen, mit der sie ihren offensichtlich heiß erstrebten Preis gewinnen könnten?

Die Antwort heißt wohl: Nicht dem Nagel gelten in Wahrheit ihre Bemühungen, eher schon ist das klägliche Herumdrehen der Fingerspitze an Lippen, Zahnfleisch und Zähnen der eigentliche Grund ihres Tuns. Darauf gibt es Hinweise. Ein Herumdrehen des Nagels im Munde veranlaßt die Aussendung elektrischer Signale, und sie erregen unser Sinneswahrnehmungszentrum, die sensorischen Projektions oder Rindenfelder des Großhirns. Da es sich über volle dreißig Millimeter erstreckt, bildet es ein weit größeres Zielgebiet als die bloßen drei Millimeter Gehirngewebe im selben Rindenfeld, die für alle von den Genitalien kommenden Reize verantwortlich sind.

Beim Nägelkauen geht es also um orale Befriedigung, die sich als Angriff auf diese evolutionären Überreste unserer Außenskelettzeiten an den Fingerspitzen tarnt. Und mit seiner Hilfe bewältigt so mancher - jedenfalls zeitweise den Streß, der uns täglich belastet.

Aus David Bodanis: Der geheimnisvolle Körper - Die Mikrowelt in uns. Econ-Verlag, 288 Seiten, 70 s/w-, 110 farbige Abbildungen, 49,80 DM

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