: Eine Legende wird zum Denkmal
Tränenreiche Beisetzung des Schalker Fußball-Meta-Mythologen Ernst Kuzorra ■ Aus Schalke Ernst Thoman
Hans-Joachim Dohm ist Schalker. Mitglied im der Welt bekanntesten Vorortklub sowieso, und seit 18 Jahren Pfarrer. Die Predigt des Pastors nahm alle mit, die Menschen in der überfüllten Schalker Gnadenkirche, die unzähligen Wartenden vor der Pforte. Außenmikrophone trugen eine Trauerrede in einen kalten, klaren Reviermittag, deren Sätze Wort um Wort unter die Haut gingen. Pfarrer Dohm nahm Abschied von Ernst Kuzorra und ging mit der Gemeinde auf eine Reise, gewiß, die verlorene Fußballzeit nicht wiederzufinden. „Ruhm“, so kanzelte der Schalker Hirte, „findet heute nur noch in der Distanz statt.“ Tränen rollten über die Backen der zumeist alten Schalker. Die blau-weißen Kuttenträger der Nordkurve standen stumm, Königsblau in Schwarz trauerte um den Meta -Mythologen seiner Geschichte.
Zwölffacher Nationalspieler, sechs Deutsche Meisterschaften, ein Pokalsieg, Bundesverdienstkreuz, von Genschman höchstselbst nach Schalke gebracht, Ehrenbürger, Ehrenpräsident, Ehrenspielführer. Ernst Kuzorra, das war anders als bei den Seelers, Beckenbauers, die Ineinssetzung mit dem Verein. Weit über das aktive Dasein hinaus, ein Leben lang. Als begonnen wurde, den „Star zum Anfassen“ wegen ständiger Abwesenheit zu bewehklagen, trank der Rentner Kuzorra Pils mit Korn in der Vereinskneipe, dazu qualmte die Zigarre. Früher, als er auf „Zeche Consol“ die Kohle von unten holte, wurde ihm und Schwager Fritz Szepan bei der Samstagschicht im Stollen auf die Schulter gekloppt: „Haut euch man hin, ihr müßt ja heute nachmittag spielen.“ Mit 14 Jahren spielte Kuzorra, 1905 in Schalke geboren, zum ersten Mal für die Knappen, im Konfirmationsanzug. Mit 17 gehörte er zur „Ersten“, die ersten Fußballschuhe wurden ihm geschenkt. Fünf Jahre später das erste Länderspiel (1917). Daß es nur zwölf wurden, war Charaktersache: kantig, knurrig und immer geradeaus. Mit zu viel Nachdruck verlangte er vom „Reichstrainer“ Professor Otto Nerz, gemeinsam mit Schwager Szepan auch national den genialen „Schalker Kreisel“ spielen zu dürfen. Die Absage von Nerz quittierte Kuzorra in der Art des Herrn von Berlichingen. Das war das Aus in der Ländermannschaft, ausgerechnet Fritz Szepan kam auf die Position von Ernst Kuzorra.
Die treffendste Anekdote für Haltung und Bewußtsein lieferte „Clemes“ (zuviele Schalker Stammspieler hörten damals auf den Vornamen Ernst) dem alten Schweden Gustav -Adolf. Bei einem Empfang begehrte der König zu wissen, wo denn um alles in der Welt Schalke liegt. Ernst Kuzorra: „Anne Grenzstraße, Majestät.“ Heute noch ein Stück Asphalt, das den Vorort von der Stadt Gelsenkirchen trennt, für Kuzorra damals eine bewußt gelebte Demarkation. Fußball zählte für ihn nur auf der Spannbreite von wenigen Kilometern, darin lag sein Schalke, 84 Jahre lang. Als 1974 die öde Betonschüssel namens Parkstadion eröffnet wurde, stand für Kuzorra fest: „Mein Schalke, dat is nich mehr.“ Kuzorra verstarb an Neujahr, sein Leichnam wurde am Samstag beigesetzt, unweit der Grabstätte von Szepan, nahe am „Glückauf-Stadion“. Wie zum Beweis der Pastorenpredigt sind die Zeiten längst über beide Ur-Schalker hinweggefegt. An der Stelle der einstigen Lotto-Bude des Schwagers steht heute eine Moschee. Schalkes Jetztzeit-Präsident Günter Eichberg landete in Unterbrechung seines Urlaubes (Nassau/Bahamas) nach einer wahren Flugodyssee erst zwei Stunden nach der Trauerfeier in Düsseldorf. Sämtliche Reviervereine fehlten und schickten Kränze mit dicken Schleifen. Und auch der für die Lizenzspieler reservierte lange Tisch an der Kaffeetafel blieb leer. Doch für Kuzorra, dieser Legende schon zu Lebzeiten, dürfte ein bleibendes Denkmal geschaffen werden. Das Parkstadion soll nach dem Willen des Vorstandes, so auch die Kommune will, seinen Namen tragen.
DFB-Schatzmeister Egidius Braun zitierte mit erstickter Stimme („Ich bin von der Predigt noch völlig ergriffen“) Alt -Bundestrainer Helmut Schön: „Ernst Kuzorra war der Größte seiner Zeit.“ Einer aus der langen Liste der trauernden Altstars wie Rolf Rüßmann, Rüdiger Abramczik oder die Kremers-Zwillinge mochte solche Worte nicht mehr hören. Für „Stan“ Libuda war mit der Predigt von Pfarrer Dohm alles gesagt. Dem einstigen Dribbelkünstler, inzwischen mit Sozialhilfe und Alkohol kämpfend, ging die Erinnerung an die alte Zeit zu sehr ans Gemüt. Einsam verließ Libuda die Trauerfeier, ging abseits der vielen draußen Stehenden durchs Gartentor. Einer der Jüngeren, der ihn auf dem Rasen erlebt hatte, sinnierte: „Da geht mein Ernst Kuzorra.“
Und wer wollte die letztendliche Unbegreiflichkeit des Schalke-Mythos so zeitlos begründen wie einer der Jungen, deren Stehplatz die Nordkurve ist: „Schalke, das ist wie meine Eltern, die ich nie hatte.“
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