: Die Stasi arbeitet weiter
Brief aus dem Sicherheitsapparat: Kampf um die Macht und gegen die Opposition ■ D O K U M E N T A T I O N
Fernschreiben des „Kollektivs des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Gera“ vom 9.12.1989 an den Ministerpräsidenten der DDR, den amtierenden Staatsratsvorsitzenden, das Präsidium der Volkskammer, den Minister für Innere Angelegenheiten, den Minister für Verteidigung, den Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit, alle Bezirksämter für Nationale Sicherheit, die Vorsitzenden der in der Volkskammer vertretenen Parteien, Fernsehen und Rundfunk der DDR: „Ein Aufruf zum Handeln“.
Heute wir - morgen Ihr. Genossen, Kampfgefährten, Patrioten im In- und Ausland, Bürger der DDR.
Von tiefer Besorgnis getragen über die gegenwärtige und sich weiter abzeichnende innenpolitische Situation in unserer gemeinsamen soz. Heimat, DDR, wenden wir uns an Euch und an die, für die auch Ihr Verantwortung tragt, mit einem Aufruf zum noch möglichen gemeinsamen Handeln für die Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und damit der Existenzgrundlage für den weiteren Bestand der DDR.
Unser Land befindet sich gegenwärtig in einer Phase der revolutionären Veränderungen, das Ziel soll und muß ein neuer, wahrer Sozialismus sein, mit dem wir uns eindeutig identifizieren. Diesen können wir jedoch nicht erreichen, wenn wir zulassen, daß unserem Staat Stück für Stück alle Machtinstrumente aus der Hand genommen (gegeben?) werden.
Beherzigen wir die Erkenntnisse der unsichtbaren Front im In- und Ausland, wer mit der Macht spielt, sie sich aus der Hand nehmen läßt - besonders während einer Revolution, in der wir uns zur Zeit befinden -, der wird scheitern. Der nutzt nicht uns, der dient der Reaktion.
Genossen, Bürger, heute richtet sich der Haß eines Teiles unseres Volkes, geführt durch eine Minderheit unserer Bevölkerung, gegen das ehemalige MfS und jetzige Amt für Nationale Sicherheit. In unserem Bezirksamt gibt es Erkenntnisse, daß Bestrebungen existieren, den „Volkszorn“, nachdem das Amt für Nationale Sicherheit zerschlagen ist, schnell auf die Strukturen und Kräfte der anderen bewaffneten Organe zu lenken, um diese ebenfalls zu zerschlagen.
Sollte es uns allen gemeinsam nicht kurzfristig gelingen, die Anstifter, Anschürer und Organisatoren dieser haßerfüllten Machenschaften gegen die Machtorgane des Staates zu entlarven und zu parallelisieren, werden diese Kräfte durch ihre Aktivitäten einen weiteren Teil der Bevölkerung gegen den Staat, die Regierung und alle gesellschaftlichen Kräfte aufbringen. Was kommt dann?
Sorgen wir also gemeinsam für die unverzügliche Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit - und dies ist unsere Forderung gegenüber jedermann.
Genossen, Bürger, damit keine Zweifel aufkommen, auch wir sind für die Aufklärung und notwendige Bestrafung bei Fällen von Amtsmißbrauch, Korruption und ähnlichen Delikten. Täglich erhalten wir zahlreiche Anrufe aus dem In- und Ausland, die zum Ausdruck bringen, daß wir alles in unseren Kräften Stehende tun müssen, um unseren soz. Staat im Interesse aller zu schützen und zu erhalten. Diese berechtigte Forderung kann jedoch nur erfüllt werden, wenn die bewaffneten Organe unserer gemeinsamen Heimat, DDR, weiter bestehen und aktiv handeln können.
Dies schließt nach unserem Verständnis und den Praktiken und Notwendigkeiten aller entwickelten Staaten dieser Welt die Existenz eines Organes, welches mit spezifischen Mitteln und Methoden arbeitet, ein.
Das Kollektiv des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Ger
und die Kreisämte
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