: Löchriger Datenschutz im Musterländle
■ Datenschutzbeauftragte Ruth Leuze legte Tätigkeitsbericht für Baden-Württemberg vor / Gravierende Verstöße festgestellt / Während des RAF-Hungerstreiks wurde Datenschutz dem Personenschutz geopfert
Stuttgart (ap) - Die baden-württembergische Datenschutzbeauftragte Ruth Leuze hat den Sicherheitsbehörden und der öffentlichen Verwaltung des Landes gravierende Verstöße gegen den Datenschutz vorgeworfen. Bei der Vorlage ihres 225 Seiten starken Tätigkeitsberichts für 1989 sagte Ruth Leuze am Montag in Stuttgart, ihr Amt habe im vergangenen Jahr mehr formelle Beanstandungen ausgesprochen als jemals zuvor. Die „anerkennenswerten Bemühungen um ein datenschutzgerechtes Vorgehen“ der mehr als 500.000 Bediensteten in den rund 8.000 Behörden im Land seien von einer Vielzahl unverständlicher Verstöße und Mängel überschattet gewesen.
Der Polizeidirektion Sigmaringen hielt die Datenschutzbeauftragte vor, ohne ausreichende rechtliche Grundlage gehandelt zu haben, als sie während des Hungerstreiks von RAF-Häftlingen von Mitte April bis Anfang Juni 1989 in der Nähe des Hauses von Innenminister Dietmar Schlee heimlich die Kennzeichen vorbeifahrender oder in der Nähe geparkter Fahrzeuge notieren ließ. In allen Fällen hätten sich keinerlei Anhaltspunkte auf geplante Verbrechen ergeben. Trotzdem seien die Daten der Autofahrer viel zu lange in Karteien gespeichert, die Einsatzberichte gar teilweise bis heute nicht gelöscht worden.
Eine scharfe Rüge erteilte die Datenschutzbeauftragte dem Stuttgarter Innenministerium. Die Sicherheitsüberprüfung von Handwerkern, die im Ministeriumsgebäude mit Umbauarbeiten beauftragt gewesen seien, sei „gespickt“ gewesen mit Verstößen. Von 230 überprüften Handwerkern seien 18 abgewiesen worden, weil sich die Führungskräfte des Ministeriums „blindlings auf die angebliche Allwissenheit des Polizeicomputers“ verlassen und hinter dem Rücken der Betroffenen willkürlich den Verfassungsschutz eingeschaltet hätten. Leuze kritisierte ferner die Sozialämter, die in ihren Antragsformularen für Kleiderhilfe zu umfangreiche und intime Daten abfragten. Auch die drei Oberfinanzdirektionen, die sich per Knopfdruck die Steuerdaten aller Steuerpflichtigen auf dem Bildschirm holen können, gehen nach Meinung der Datenbeauftragten mit dem Steuergeheimnis zu großzügig um.
Der Schutz gefährdeter Personen sei notwendig, sagte Ruth Leuze. Dennoch müßten die Rechte unbeteiligter Bürger gewahrt werden: Daten- und Personenschutz ließen sich unter einen Hut bringen. Sechs Jahre nach den grundlegenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts müsse der Gesetzgeber allerdings „endlich Farbe bekennen, was die Polizei heimlich machen darf und was nicht“. Im Gegensatz zu Leuze vertrat Innenminister Schlee in einer ersten Stellungnahme die Auffassung, daß zwischen Daten- und Personenschutz ein Spannungsverhältnis entstehe. In einer Zeit, in der „der brutale Mord an dem Bankier Alfred Herrhausen in erschreckender Weise die ständige Gefahr terroristischer Anschläge aufgezeigt“ habe, dürfe seiner Ansicht nach kein Verständnis für die Kritik an Personenschutzmaßnahmen aufgebracht werden.
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