Die Phase der schönen Revolution ist vorbei

Opportunismus und plebejischer Volksgemeinschaftsdünkel in der DDR  ■ E S S A Y

Ich kann es mir nicht verkneifen, folgende Anekdote hier wiederzugeben, die sich bei einem Empfang des Ministerpräsidenten Björn Engholm in Ost-Berlin kürzlich zutrug: Der Vorsitzende der SDP, Ibrahim Böhme, stellte sich vor mit den Worten: „Meine Herren, ich denke, Sie haben Verständnis dafür, daß ich Sie gleich wieder verlassen muß mein moralischer Schreibtisch ruft. Morgen früh muß ich wieder Politik machen.“

Kurz darauf zieht einer einen Herrn von der Bundesbank am Ärmel: „Der Herr Böhme möchte Sie noch einmal sprechen, bevor er geht.“ „Wer ist Herr Böhme?“, fragt dieser zurück.

„Das ist der zukünftige Kanzler hier in der DDR!“

Nein, also wirklich, wie staatsmännisch sich nun die einstigen Aussteiger präsentieren, immer in Schlips und Kragen - man kennt sie nicht wieder. Als hätten sie einen Intensivkurs in politischer Rhetorik belegt, und müßten nun vor aller Welt beweisen, daß es den Neulingen auf der politischen Bühne am Handwerk nicht fehle, und sie genauso reden und auftreten könnten, wie man es von einem richtigen Politprofi eben erwartet. Je unpopulärer dagegen die SED wird, je mehr wird sie eine Partei für Intellektuelle, und je mehr frage ich mich, ob ich sie nicht nur wählen, sondern ihr nicht konsequenterweise auch noch beitreten sollte. Immerhin ist die SED, mit dem nicht gerade reißerischen PDS hintendran, jene Partei, die ihre protokollarische Verklemmung und ideologische Borniertheit nun endlich abzulegen beginnt, während alle anderen nichts besseres zu tun haben, als sich in dieses bigotte Polittheater einzuüben. Und es ist auch nicht wahr, daß die SED derart verdorben wäre, wie jetzt gern behauptet wird. Ich kenne, wie wohl so ziemlich jeder andere auch, allerhand Genossen, die integer genug waren, den linken ethischen Anspruch dieser Partei ernst zu nehmen, auch, wenn sie dabei ihre Unschuld mitunter nur noch in einer gewissen tragischen Naivität bewahren konnten. Solange die SED jene ideologische Alleinherrschaft besaß, war sie keine Partei im eigentlichen und heutigen Sinne, sondern eher eine Art Kirche, die, in Ermangelung einer historisch-moralischen Alternative, allgemein genug war, von links nach rechts schlechthin jedem Platz zu bieten, der irgendwie einer Konfession bedurfte, und deren ursprünglich ethischen Werte man, wie eben die der Kirche auch, durchaus achten und teilen konnte, selbst, wenn deren gegenwärtige Erscheinung unübersehbare Deformationen aufwiesen. Es war immer jener linke, revolutionäre Anspruch, an dem diese Partei gemessen wurde, und noch heute gemessen wird.

Die SED hatte immer zwei Gesichter, es war sowohl die Partei der Emporkömmlinge und Mitläufer, als auch die Partei der hoffnungslosen Idealisten und Weltverbesserer, und in letzterem war sie eine Partei, der man sehr wohl aus lauteren Intentionen heraus beitreten konnte, und sei es auch nur, um sie, wie Luther die Kirche, kritisch an ihrem eigenen ethischen Anspruch zu messen, was immer man damit auch letztlich hat beweisen wollen. Und es war beileibe nicht nur eine Frage der Zivilcourage, wie weit und wie lange man diese zermürbende Dialektik der revolutionären Geduld trieb, sondern auch eine Frage der fehlenden Alternativen, der Hoffnung auf bessere Zeiten und der jeweils empfundenen Verantwortung für eine bestimmte Aufgabe. Und bisweilen war es auch schlicht nur biographischer Zufall, ob und wann man den Glauben an die gute Sache des Sozialismus endgültig verlor.

Jene aber, die sich ausgerechnet jetzt, und nicht etwa schon all die stagnierenden Jahre zuvor, beleidigt aus ihr zurückziehen, gehören nun kaum noch zur bekennenden Linken. Doch dank der gegenwärtigen Austrittswelle kann die Partei nur gesunden, denn jetzt auszutreten, ist nicht weniger opportun, wie es vor Jahren opportun war, in die SED einzutreten.

Vielfach gibt es in diesen Monaten die scheinbar so paradoxe Situation, daß die einst aus ihren Bonzen -Elternhäusern rausgeflogenen Söhne und Töchter, mit den Alten nun wiederum in Konflikt geraten, weil diese aus der SED aus- und die Kinder dort eintreten. Diese Wende hat niemanden gewandelt, nur die Vorzeichen, und sichtbar wird einmal mehr: Was die Menschen im Grunde voneinander trennt, sind weniger politische Standorte, als Lebenshaltungen, denen politischen Gesinnungen immer nur aufgepfropft, und, wenn es an der Zeit ist, eben auch geopfert werden.

Wer auf der Seite der Autorität und der Ordnung stand, und das sind in diesem Deutschland nunmal eine ganze Menge, litt weniger unter der autoritären Staatlichkeit - sonst hätte er sich früher schon beschwert - als vielmehr unter dem jetzigen Autoritätsverlust, und ihn quält weniger die Fehlkonstruktion des einstigen Überbaus, als dessen plötzliche Hinfälligkeit. Die Menschen richten sich nicht nach Theorien aus, sondern nach Hierarchien, und wo die Autorität zerbricht, ist des Kleinbürgers heilige Tausendjährigkeit in Gefahr. Mit der Obrigkeit ließ es sich recht und schlecht leben, solange die Herren im Hause nur ganz gewöhnliche Machthalter waren. Jetzt aber, wo diese gerade-noch regierende Staatspartei zu werden verspricht, was sie ursprünglich einmal sein wollte, nämlich eine linke Partei, imponiert sie freilich jenen nicht mehr, die sich nicht mit der linken Gesinnung, sondern mit der Macht als solcher identifiziert haben - und wer auf Autorität disponiert ist, kippt sehr schnell von einer Fiktion in der andere.

Wenn ich mich also vor der jetzt heraufbeschworenen Wiedervereinigung fürchte, dann nicht etwa deshalb, weil ich in den dann einziehenden Kapitalismus für etwas so furchtbares hielte - wenn nachher einfach alles so würde wie es im Westen schon ist, wäre zwar mein Aushalten hier sinnlos gewesen, und ich hätte schon vor Jahren gleich im Westen bleiben können - aber bitteschön, nach mir geht es nicht. Wenn die Wiedervereinigungswilligen nur am westlichen Lebensstandard teilhaben wollten, wäre das auch in Ordnung, obwohl ich für meinen Teil mit weniger auskäme. Aber das es nicht nur der lächelnde Westen der Werbung und der Warenhäuser ist, um den es geht, müßte jedem klar geworden sein, der montags mal in Leipzig war, oder der jene Meldungen wahrgenommen hat, denen zufolge Leute, und nicht etwa nur die verhaßten Bonzen, um ihr Leben fürchten mußten, Symphonikern die Reifen zerstochen, reichen Kneipern die Scheiben zerschlagen, Sportler an Tankstellen nicht mehr bedient und deren Kinder bedroht wurden, weil man ihnen ihre Privilegien mißgönnt, als ob Boris Becker nicht ein Vielfaches an Privilegien besäße, und als ob es den reicheren Westen ohne Ungleichheit und ohne Privilegien einzelner überhaupt geben könne. Nein, es geht mitnichten nur um die praktische Überlegung, der zufolge der Sozialismus versagt hätte, und dessen fehlende Motivation nun durch ein funktionierendes Leistungsprinzip ersetzt werden solle, sondern es geht in diesem aufkommenden Volkszorn auch um einen sehr dumpfen, plebejischen Volksgemeinschaftsdünkel, aus dem in Deutschland der Nationalismus ebenso wie der Stalinismus, jenes emphatische Wir-Gefühl bezogen, und vielleicht trug auch die jahrzehntelange arrogante Selbstbejubelung nicht nur vulgärsozialistische, sondern auch nationalistische Züge.

Nein, es ist nicht die Wiedervereinigung an sich, die ich fürchte, sondern das Aufleben jener abgestandenen völkischen Gefühle, die der Mief des Stalinismus weitaus besser konserviert zu haben scheint, als der welterfahrene Westen Deutschlands, und ich fürchte die neuerliche Machtergreifung eines Gesinnungsapparates, der auf dem hiesigen demokratischen Niveau finsterer zu werden droht, als im hintersten Bayerischen Wald. Letztlich würden dann wieder einmal jene kaltgestellt werden, die für alles, was sich in diesem Land bisher bewegt hat, bis vor wenigen Wochen noch den Kopf hinhielten, nämlich die Idealisten, die Spinner, die Intellektuellen, Linken und Weltverbesserer, und ich kann nur hoffen, die linken Oppositionsvereine hören ihre Stimmen aus der allgemeinen Stimmung sehr genau heraus, bevor sie sich mit dem Volkszorn gegen sich selbst verbünden. Denn die Phase der schönen Revolution ist vorbei, und einige ihrer Kinder, nämlich die, die im Oktober und November noch in keiner Nachrichtensendung fehlten und die jetzt kaum mehr zu sehen sind, hat die Revolution schon gefressen. (gekürzt)

Rainer Schedlinski, DDR-Autor