: Das Volk vor der Volkskammer
■ Zwischen zehn- und zwanzigtausend DDR-BürgerInnen umzingelten gestern das Allerheiligste: die Volkskammer / Aggressive Volksfeststimmung, in der keiner den ersten Stein wirft / Proteste gegen den Staatssicherheitsdienst
Die Menschenkette rund um den Klotzbau Volkskammer, zu der zahlreiche DDR-Oppositionsgruppen aufgerufen hatten, zerreißt immer wieder. An der Masse der Leute liegt es nicht, zehn- bis zwanzigtausend haben sich nach Arbeitsende gegen 17 Uhr zum Protest gegen die SED und die Übernahme der verhaßten Stasi-Leute in einen geplanten „Verfassungsschutz“ eingefunden. Doch die meisten ballen sich zu einer fröhlich -wütenden Demonstration vor dem Volkskammer-Eingang Karl -Liebknecht-Straße zusammen.
Diese aggressive Volksfeststimmung ist so ganz DDR-eigen. „SED-Verbrecher“, schreien sich die Leute ihre Wut aus dem Leib, aber niemand würde auf die Idee kommen, die ungeschützten Fensterscheiben der Volkskammer einzuschlagen. „Alle Macht dem Volke“, skandieren sie, ganz im Sinne eines ursprünglichen Sozialismus, aber auch immer wieder das gruselige „Deutschland, einig Vaterland!“
Jemand stimmt eine Parole an, die anderen fallen begeistert ein. „Stasi raus!“ brüllen sie mit besonderem Haß. Und dann in aufdringlichem Frohsinn: „Nieder mit der SED“ auf die Melodie von „Ja, mir san mit'm Radl da“. Manchmal wähnt man sich geradezu in einem Fußballclub. „Deutschland!“ - klatsch -klatsch-klatsch - „Deutschland!“ - klatsch-klatsch -klatsch.
Deutschland? Das Volk da vor der Volkskammer weiß gar nicht, daß die Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes und solch eine Demonstration dank Bannmeile hierzulande undenkbar wäre. „Für Bonzen und Spitzel keinen Tag Überbrückungsgeld!“ Solche und andere Plakate werden ungeniert an die Parlamentsfenster geklebt.
Warum also die Rufe nach dem einig Vaterland? „Mein Sohn ist drüben“, sagt einer mit einer Deutschlandfahne. „Ich will nicht ewig von ihm getrennt sein.“ Sein junger Freund findet, „daß die Kommunisten immer noch zu stark sind“. Und wenn dann wieder der gesamtdeutsche Militarismus und die gesamtdeutsche Ökonomie zu stark ist für den Rest der Welt? „Oh je, nein, das hatten wir schon mal. Ich meine nur, die beiden deutschen Staaten sollten sich ähneln. In einer Konföderation oder so.“ Ein typisches Beispiel für die gegenwärtige Begriffsverwirrung.
„Kennst du denn niemand vom Neuen Forum?“ fragt ein anderer fast verzweifelt. „Der Einsatzleiter hat mir zugesichert, daß die über Lautsprecher reden dürfen. Die paar Parolen, das kann's doch nicht gewesen sein.“ Aber der dramaturgische Höhepunkt kommt ja schon. Im Inneren des gläsernen Gebäudes sammelt sich die CDU-Fraktion, die nach Schluß der Volkskammerdebatte endlich nach Hause will.
„Keiner läßt sich sehen, wie soll man das verstehen“, skandiert die Menge. Sie will endlich jemand von da drin am Schlawittchen packen. Da nun werden die Jalousien hinter den Glasscheiben heruntergelassen: ein grober psychologischer Fehler. Pfeifkonzert, Gerangel um die Tür, „Wir wollen rein!“, aber auch wieder: „Keine Gewalt!“ Die Volkspolizisten schließen sich nun ihrerseits zu einer Menschenkette zusammen und halten die drängende Masse mühsam zurück. Nichts passiert, keiner kommt raus ins gleißende Licht der Fernsehteams. „You wanted a crowd, now you have a crowd“, kommentiert trocken einer der anwesenden US -Reporter.
Ute Scheub
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