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JONGLIERENDER FLANEUR

■ Dreimal Kagel mit dem „Ensemble Modern“

Unter den Werken noch lebender Komponisten gibt es kaum so angenehme Mißklänge wie die von Kagel. Das liegt an seiner Blickrichtung: Immer öfter schnappt er sich Vorgefertigtes und mischt es neu zusammen - zum Beispiel (und der hat das ja ausgiebig gemacht) Strawinsky. Und immer mehr zieht sich die Klanggebung der Instrumente aus der Geräuscherzeugung und sogar ihrer Imitation zurück: schräge Töne mit geraden Strichen. Der Reiz ist für Kagel nicht die Idee, sondern die Undefinierbarkeit eines Stückes.

Am Mittwoch abend spielte das „Ensemble Modern“ unter Kagels Leitung drei solcher Rückblicke des Komponisten. Das Phantasiestück für Flöte und Klavier (1987/88) von Dietmar Wiesner und Hermann Kretzschmar ist dem kauzig -misanthropischen Schriftsteller Arno Schmidt gewidmet. Figuren entkriechen den Instrumenten wie Aladins Geist der Wunderlampe. Töne tropfen, heulen, ziehen Fäden. Dabei verhöhnt das Stück den Komponisten: Jede schwarfe Abgrenzung, bemerkt Kagel, sei ungerecht, und er meint damit eine stilistische Entscheidung. Daraus müßte die prinzipielle Langeweile folgen, kein scharfer Gedanke, keine neue Idee. Aber in dem Phantasiestück ist die schärfste Abgrenzung enthalten: eine Stellwand, hinter der ein Kammerorchester Kommentare spielt. Der Interpretation des Hörers bleibt es überlassen, ob es begleitet oder stört, mitläuft oder widerspricht. Am Ende siegt die schrille Störung, Kagels Hang zur Mehrdeutigkeit unterliegt diesmal.

Das Prinzip dessen, der gegen Prinzipien ist, zieht sich auch durch die anderen Stücke. Fürst Igor, Strawinsky für Baßstimme und Instrumente (1982) ist ein Geburtstagsständchen zum Hundertsten des neo-antiken Exilkomponisten. Getragen wird es von einem in russischer Sprache gesungenen Verzweiflungslied aufs Wolgaland, geklaut aus Alexander Borodins Oper „Fürst Igor“. Der Tenor dieser Baßarie: Wer sein Land von ferne nicht retten kann, will sterben. Kagel fasziniert an Strawinsky vor allem seine Strenge; außerdem habe Strawinsky, wie er selbst, immer im Exil leben müssen. Doch Kagel scheint sich im Exil ganz wohl zu fühlen, hat sich an dem gebürtigen Argentinier doch wieder einmal bewahrheitet, daß ein Kultur-Prophet im eigenen Land nichts gilt. Die Musik des Stückes ist wie der Text dramatisch. Schlagzeuge dröhnen inbrünstig, Löwengebrüll geht in Möbelrücken über. Aus der großen Trommel ballern Schicksalsschläge, an denen Gesang, Englischhorn und Bratsche aus vibratösestem Herzen leiden. Doch das Stück ist zu kurz, um kitschig zu wirken. Das Ende rettet vor der Seichtigkeit. Höhnisches Gelächter und hohes Geheule beschließen die Huldigung, hinter der Stellwand kommt, ganz weiß gekleidet, ein Schlagholz geschultert, einer hervor, das monoton klopfende Schicksal. Die letzten Schläge sind die leisesten.

Das dritte Stück ist ein Flop. Vielversprechend heißt es Variete, Konzertstück für sechs (1976/77), aber es führt zu nichts. In Filmtheaterbesetzung - mit Akkordeon, Mundharmonika und Xylophon - beginnt es schwungvoll, um kontinuierlich abzubauen. Kagel läßt Blitz und Donner fahren, doch die Musik findet immer eindeutiger nach Hause in die Harmonie. Die Anzahl der Sätze ist so beliebig wie ihre Langatmigkeit, und kein Ende rettet hier. Es bleibt zu lange aus.

Das Neue entpuppt sich bei Kagel als Schatten des Alten. Er flaniert am Skulpturenkabinett von Strawinskys Neoklassizismus bis Karl Valentins Variete-Theater vorbei und nimmt sich, was ihm paßt. Damit jongliert er.

Christian Vandersee

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