Allzu dünnes Eis

Zur Regierungserklärung von Modrow  ■ K O M M E N T A R E

Der DDR-Regierungschef Modrow versucht noch immer eine politische Quadratur des Kreises: in einer schwelenden revolutionären Situation des Landes eine handlungsfähige Regierung vorzuführen. Angesichts drohender Streiks und erneuter Abwanderungswellen, sich wandelnder Kräfteverhältnisse im Land versucht er einen „innenpolitischen Konsens“ zu formulieren, auf sehr dünnem Eis. Dieser Konsens ist faktisch die einzig wirkliche Legitimation seiner Regierung. Sein Ausruf, er sei ja nicht durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen, war letztlich wenig überzeugend, weil er darauf verzichtete, deutlich zu machen, durch welche Form der der Machtübernahme er sich denn legitimiert sieht. Modrows neuer innenpolitischer Konsens heißt: Integration der Opposition und immer noch Kompromiß mit dem Apparat. Er hat deutlich den „runden Tisch“ aufgewertet; „unmittelbare Mitarbeit“ der „kompetenten Persönlichkeiten“ der Opposition an der Regierung angeboten und um Mitarbeit am Wahlgesetz, an der Vorbereitung seiner Bonn-Reise gebeten. Der Opposition wird es schwerfallen, weiterhin mit der mangelnden Legitimität der Regierung Modrow zu argumentieren. Sie ist in die Pflicht genommen, und sie steht unter Druck, Konzepte zu liefern.

Modrow könnte es gelingen, die Opposition zu verunsichern und noch weiter zu spalten. Innerhalb der Wahlkampfkandidaten wird er um so mehr das stärkste Wahlkampfargument der SED bleiben, weil er sich als Organisator einer Regierung der nationalen Rettung darstellt. Nicht umsonst verzichtete er darauf, sich nur ein einziges Mal auf seine Partei zu beziehen. Aber ob er mit seiner Regierung noch Einfluß auf die Dynamik in der Bevölkerung bewahren kann, muß bezweifelt werden.

Den fatalen Kompromiß mit dem Stasi-Apparat mit sozialpolitischer Verpflichtung zu rechtfertigen ist instinktlos. Den Wiedervereinigungswunsch der Massen in Zusammenhang mit Gewalttätigkeit zu bringen ist politisch verheerend, selbst wenn es dafür Beispiele geben sollte. Vor allem aber: Modrow hat zwar das wirtschaftliche Desaster umschrieben, Zahlen genannt, aber die Hauptfrage in der Bevölkerung nicht beantwortet. Die Frage nämlich, ob die DDR -Wirtschaft überhaupt noch mit eigenen Kräften unter Einschluß von auswärtigem Kapital zu retten ist. Die Tonart, daß „Arbeit und noch einmal Arbeit“ gefordert ist, kennen die Leute schon seit vierzig Jahren. Die Arbeiter rechnen damit, daß ein großer Teil ihrer Produktionsstätten geschlossen werden muß, rechnen mit Arbeitslosigkeit, mit Verlust von Sparguthaben. Eine Regierung, die nicht mal in der Lage ist, das Desaster so deutlich zu benennen, wie es dem Volke vor Augen steht, und sich statt dessen mit der neonazistischen Gefahr aufhält, wird kaum die Leute im Lande halten können.

Klaus Hartung