: Blutkrebs rüttelt Sittensen auf
■ Statistik nennt verdächtig hohe Leukämie-Rate bei Kindern / Untersuchungen laufen / BürgerInnen verdächtigen Poroton-Fabrik
In Sittensen, einem 9.000 Einwohner starken Gemeindeverband zwischen Bremen und Hamburg, sind in den vergangenen fünf Jahren elfmal mehr Kinder an Leukämie erkrankt, als dies laut Bundesdurchschnitt zu erwarten wäre.
Von anderen bösartigen Tumoren würden die Kinder in Sittensen viemal häufiger befallen als durchschnittlich zu erwarten seien. Dies hatte das Mainzer Universitätsinstitut für Medizinische Statistik und Dokumentation anhand seines bundesweiten Kin
derkrebsregisters errechnet. Fünf Kinder sind in Sittensen an Blutkrebs erkrankt, eines der Kinder ist mittlerweile gestorben. Zwei ebenfalls leukämiekranke Jugendliche (16 und 17 Jahre alt) sind wie die Erwachsenen statistisch nicht erfaßt.
Zum Vergleich: Das Kinderkrebsregister hat für die Zeit von 1983 bis 1987 bezogen auf je 100.000 Kinder nur insgesamt 14 Neuerkrankungen verzeichnet.
Aufgerüttelt von dieser Schreckensmeldung wurden einige Untersuchungen in die
Wege geleitet, sämtliche Ergebnisse bisheriger Luftmessungen der Umgebung nochmals nach Hinweisen durchforstet und zur ersten Information besorgter BürgerInnen eine Einwohnerversammlung einberufen. Immer wieder wird dabei auf allen Ebenen betont, daß die statistische Auffälligkeit zwar alarmierend, vielleicht aber doch nur ein statistischer Zufall sei. Trotzdem werde jetzt ein Gutachten über die Wasser-, Luft-und Bodenverhältnisse im Raum Sittensen erstellt. Außerdem habe die Bezirksregie
rung Lüneburg für den Landkreis Rotenburg eine eingehende Untersuchung des Trinkwassers vorgesehen, teilte Klaus -Wilhelm Lecking vom Gesundheitsamt des Landkreises den knapp 600 SittenserInnen der Bürgerversammlung mit.
In dieser Veranstaltung kristallisierte sich auch heraus, gegen wen die BürgerInnen selbst ihren Hauptverdacht richten: Gegen die Wienerberger Ziegelfabrik, ein Poroton -Werk am Ort, über dessen Schadstoffausstoß in Sit
tensen einige Mutmaßungen kursieren. Das Werk verbrenne in 24 Stunden bis zu sechs Tonnen Kunststoff, wußte ein Bürger zu berichten. Und Ex-Mitarbeiter Wilhelm E., dem das Arbeitsamt geraten hatte, die Arbeit in der Ziegelei mit Rücksicht auf seine Gesundheit nicht mehr aufzunehmen, berichtete von seinen Schädigungen in Hals und Nase, wegen denen er einige Male gegen die Firma vor Gericht zog. Den Aktenordner hatte E. vorsorglich mit gebracht.
Im Bewußtsein der SittenserInnen spielen auch Erfahrungen aus der Gründungszeit der ehemaligen Oltmann Ziegelei in den 70er Jahren eine Rolle, als Niederschläge aus dem damals noch halb so hohen Schornstein die Fahrzeuge der Mitarbeiter so stark verätzten, daß die Ziegelei ihnen eine neue Lackierung bezahlte. Da unterdessen die Schornsteinhöhe verdoppelt wurde, sei diese Gefahr zumindest gebannt, erläuterte Burckhard Fuchs vom Gewerbeaufsichtsamt in Cuxhaven.
Fuchs betreut das Poroton-Werk als zuständiger Sachbearbeiter von Anfang an. Er entkräftet den Verdacht der BürgerInnen: In den gewerbeaufsichtsamt-mäßigen Routineuntersuchungen (alle drei bis fünf Jahre) hätten nur die üblichen Abfallprodukte wie bei jeder anderen Ziegelei festgestellt werden können: Staub, Fluorid und nur in verschwindend geringem Maße Benzol. Für diesen letzten und im gesamten Produktionsprozeß am ehesten krebsverdächtigen Stoff nennt Fuchs nur 0,1 Mikrogramm pro Kubikmeter der gemessenen Emmissionen. „Das ist weit unter den zulässigen Werten. Da sind die Immissionen in Fahrzeugen, die mit benzolhaltigem, bleifreiem Benzin fahren,
weitaus höher“, beteuert der Experte des Gewerbeauf sichtsamtes.
Um einen für die Wärmedämmung optimalen Ziegelstein zu produzieren, muß dem Tongemisch Sand, Sägespäne oder -wie in Sittensen-Styropor zugesetzt werden - man muß es künstlich „aufblähen“. Das Styropor wird in kleinen Kügelchen zugegeben und dann zusammen mit dem Ton gebrannt. Dabei fällt theoretisch das in seiner krebserregenden und gesundheitsgefährdenden Wirkung noch nicht abschließend erforschte Styrol an. „Das Styrol kann in der Ziegelei an keiner Stelle des Produktionsprozesses in die Außenwelt gelangen“, meint dazu Burckhard Fuchs. Er begründet dies damit, daß die Temperaturen im Brennofen des Werkes auf bis zu 1.000 Grad klettern: „Polystyrole verbrennen spätestens bei 200 Grad und zersetzen sich völlig“, betont er. Ob bei der Produktion von solchen „porosierten Leichtziegeln“ Dioxine entstehen, sei bisher nicht bekannt und müsse jetzt, gerade um mögliche Ursachen für die Krebsfälle auszuschließen, dringendst untersucht werden.
Der Geschäftsführer des Werkes, Richard Hofmeister, mochte ohne Rückendeckung aus dem Hauptwerk in Hannover gestern nicht Stellung nehmen zu den Vorwürfen. Hofmeister versichert jedoch: „Auch wir sind an einer Aufklärung brennend interessiert und werden aktiv dazu beitragen.“ Ihm seien aus der gesamten Branche und auch aus den Publikationen des Fachverbandes keine Gesundheitsgefährdungen durch Poroton-Werke bekannt. Ob die Ziegelei zumindest Mitverursacherin ist, werden die notwendigen Untersuchungen zeigen müssen.
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