: DER KREBSGANG EINES ROMANTIKERS
■ Retrospektive der Kurzfilme Ernst Reinboths in der Akademie der Künste
Höchstwahrscheinlich ist Ernst Reinboth der einzige Berliner Filmemacher, der drei deutsche Filmpreise, neunmal die Prädikatisierung „besonders wertvoll“ und fünfzehnmal „wertvoll“ für seine Filme erhalten hat. Wahrscheinlich ist er auch der einzige, der über zwanzig Jahre lang dem Genre des Kurzfilms treu blieb. Die Preise und Prädikatisierungen stellen fast die einzige Finanzierungsquelle seiner Produktion dar. In der Filmszene gilt er ein wenig als Exot: Unabhängig von den ökonomischen und filmpolitischen Interessen der professionellen Produzenten wird er von diesen mißtrauisch beäugt. Ernst Reinboth, der Kunsterziehung und Sport studiert hat, fertigte noch in seiner Referendarzeit seinen ersten Kurzfilm an und widmet sich seitdem abstrakten Bilderfolgen.
Seine Werkstatt liegt in einer Garage. An einem kleinen selbstgebauten Tricktisch und am Schneidetisch erfindet und montiert Reinboth seine Bilder. Daß einer, wirtschaftlich von seiner Familie unterstützt, über zwanzig Jahre einsam in seinem Atelier malt und ab und zu in Ausstellungen seine Bilder zeigt, ist keine ungewöhnliche Vorstellung; daß einer so lange zurückgezogen Filme macht, erstaunt. Das Bild des einsamen Tüftlers paßt kaum zu diesem industriellen Gewerbe. Nur für die Musik zu seinen Filmen hat Reinboth oft mit Komponisten, (Boris Blacher, Györgi Ligeti), Tonmeistern (Rüdiger Rufer) und Musikern an der TU zusammengearbeitet.
Für seinen ersten Film „Interferenzen“ (1967) komponierte Boris Blacher elektronische Klänge. Lichtblitze und Reflexe, Luftblasen, Wasser: aus einer schwarzweißen Verfremdung einfachster Naturereignisse entsteht ein suggestiver Bildersog. Flecken wachsen zu Flächen zusammen, Kleckse pulsieren, Blasen treiben, Schaum rauscht. Keimende Formen ahmen die Metamorphosen der Materie nach. Reinboth läßt die Wellen malen. Er schöpft aus Strudeln und sprudelnden Strömen den Rhythmus seiner Bilder. Flüchtig wie das Filmbild selbst zischt das Wasser unter dem Objektiv der Kamera vorbei.
Der Krebsgang in der Musik, eine rückwärtslaufende Tonfolge, beschäftigte Reinboth sehr und wurde zu einem Leitmotiv seiner Montagetechnik. Er kehrte den Bewegungsstrom um. Mit Negativ-Material, mit seitenverkehrten und um 180 Grad auf den Kopf gedrehten Aufnahmen komponierte er gegenläufige und auseinandertreibende dynamische Strukturen. Symmetrien und Spiegelungen lassen die ursprünglichen Bildelemente zu einem komplexen System weiterwachsen.
Alles Fließende, sich nicht Verfestigende bleibt ein bevorzugtes Sujet Reinboths. Es entstehen für ihn Welten im Wassertropfen ebenso wie im Lichtfunken. Das Licht als ein für jeden sichtbarer Vorgang und für jedes Filmbild notwendiges Element nimmt er als Signal des Lebendigen. Er zeichnet mit Lissajousfiguren, die durch elektrische Schwingungen entstehen und Energie in Licht übersetzen. Er benutzt die Aufzeichnungen von Kraftfeldern, um zwischen dem Pulsschlag der Zivilisation und organischen Phänomenen Verbindungen zu stiften. Mit Mehrfachbelichtungen erzeugt er Analogien zu der Mehrstimmigkeit in der Musik.
Reinboth erweist sich als ein Romantiker, dem sich in den verfremdeten Erscheinungsbildern von Natur und Technik der Mikrokosmos und das Universum offenbaren. Die musikalischen und bildlichen Kompositionsprinzipien spiegeln mathematische und physikalische Gesetze. Die Entstehung seiner Filme beschreibt er als die Entwicklung der Ideen aus einer ursprünglichen Zelle heraus: Bilder zeugen sich fort wie lebendige Wesen, atmen und wachsen. Die Gärungsprozesse der Materie gleichen Welten aus dem Inneren des Körpers: Schöpfungsgeschichte als Verdauungsakt.
Reinboth beschränkt sich in seinen Studien auf einfache Techniken der Verfremdung. Manchmal rutschen seine Bilddichtungen in die Beschaulichkeit des Kulturfilms oder die kunstgewerbliche Ecke des Hobbyfilmers ab. Doch dann gelingt ihm wieder der Sprung in eine ungewohnte Perspektive, der die Banalität des konkreten Bildes sprengt und einen weiten Assoziations-Horizont öffnet.
Obwohl Reinboth keine Geschichten erzählt, arbeitet er doch gelegentlich mit poetischen Texten. In „Lissajous 2 Großstadt“, angehaucht von den Swinging Sixties, wird der Körper einer Schaufensterpuppe in poppige Großeinstellungen zerlegt zu einem Gedicht von Gottfried Benn. In „Der Sucher“, einem halbstündigen existentialistischem Marionettenfilm, verbindet Reinboth einen Text von Samuel Beckett über eine in all ihren Lebensäußerungen erstarrte Gesellschaft mit dem endlosen Weg einer Puppe durch ein Labyrinth. Es entsteht eine kalte und gleichgültige Stimmung, eine Arena der Absurditäten, die man machtlos hinnimmt. Einmal beobachtet die im Wasser badende Marionette, wie ihre Arme vom Körper abgetrennt sich schlangengleich wild durch das Wasser jagen und am Ufer ein Liebesspiel beginnen: In solchen Szenen nähert sich Reinboth ohne großen technischen Aufwand einem surrealen Bildertheater. Seit 1980 beschäftigt er sich mit Dantes „Inferno“, dessen Grausamkeit, Schönheit und Groteske ihn zu einigen kurzen Bilddichtungen anregte. In „Dantes Traum von der Hölle“ beendete er 1989 sein Dante-Projekt in einem 118minütigen Film, seiner subjektiven und nicht immer glatten Lesart des Stoffes.
Der Filmemacher selbst steht der ihm von der Akademie angebotenen Retrospektive seines gesamten künstlerischen Filmwerks etwas skeptisch gegenüber. Wenn auch das Universum, das er in seinen Filmen beschreibt, ein unendlicher Gegenstand ist, so versuchte er doch immer, es in faßbaren Mosaiksteinchen darzustellen und nicht in überwältigender Monumentalität. Die großen Gesten liegen ihm nicht.
Katrin Bettina Müller
Retrospektive Ernst Reinboth, Filme 1967-1990, 13. und 14. Januar in der Akademie der Künste, 6 Programme a 110 Minuten, um 17, 19 und 21 Uhr.
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