: Durch alle Befangenheit hindurch
■ Zu dem Buch „Ein verliebter Gefangener“ von Jean Genet
Martin Kurbjuhn
Iimmer wieder betont Jean Genet in seinem 1986 in Frankreich erschienenen Buch Ein verliebter Gefangener . Palästinensische Erinnerungen die Differenz zwischen gelebter und beschriebener Wirklichkeit, die in der sprachlichen Umsetzung schon enthaltene Veränderung der Erlebnisqualität, die Kluft zwischen dem sogenannten objektiven Prozeß und der sogenannten subjektiven Wahrnehmung dieses Prozesses, die immanente Melancholie literarischer Produktion, die auch daraus entsteht, daß in dem Augenblick, in dem es gelingt, eine bestimmte Version der Realität aufs Papier zu bringen, der Schriftsteller sich immer weiter von dieser Realität entfernt. Er nimmt als Autor um so intensiver an der Wirklichkeit teil, die er darstellt, je weniger direkt er sich seinen vergangenen Erfahrungen im Moment des Schreibens ausliefert. Nur so, in diesem Widerspruch, wird eine überzeugende ästhetische Lösung möglich. Das ist die oft vergessene Voraussetzung jeder Kunstproduktion. Ohne sie ist Poesie unmöglich. Ohne sie bleibt die Sprache an ihren Gegenstand gefesselt und kann keine eigenständige Qualität entfalten.
Als Einzelgänger mit einem starken Gemeinschaftsbedürfnis, für das er, wie er weiß, im wirklichen Leben dauerhaft keine Entsprechunng finden wird, sucht Genet nach dem Moment der vollkommenen Verständigung, dem Moment, in dem es gelingt, die Entfremdung zwischen Menschen vorübergehend aufzuheben. Es ist die Suche nach der Liebe in allen ihren Formen. Diese Leidenschaft gibt den verschiedenen Schichten des Textes, den Beschreibungen, Erzählungen, Erinnerungen, Reflexionen und Analysen ihre innere Dynamik, ihre Spontaneität, ihren Zusammenhang und den Einzelbeobachtungen ihre Schärfe, Plastizität und Wahrhaftigkeit.
Die authentische Absicht, das Gefühl und wirkliche Interesse hinter den verwirrenden Alltagserscheinungen interessieren ihn, nicht die flache Reproduktion dessen, was geschieht, sondern das komplexe Bild, die gegenläufigen Strömungen, die Taktik und ihre durch die Praxis erzwungenen Veränderungen, die enorme Tiefe kultureller Bestimmtheit und die daraus entstehende Ritualisierung des Denkens und Verhaltens. Das gilt natürlich auch für die eigenen Prägungen, die wesentlich schwerer zu durchschauen sind, und den begrenzten, im wesentlichen immer noch kolonialistischen Blick auf außereuropäische Ereignisse, wobei die Idealisierung inzwischen ja häufig genug eine größere Rolle spielt als die Überheblichkeit, obwohl die in der Idealisierung verborgene Arroganz nicht zu unterschätzen ist.
Es ist eine der größten Leistungen des Buches, daß Genet eine Balance gefunden hat zwischen der präzisen Einschätzung der begrenzten Möglichkeiten eines Schriftstellers, wenn er es mit ihm fremden, kollektiven Vorgängen zu tun bekommt, und der Sicherheit des Autors, der seine eigenen Fähigkeiten gut genug kennt, um jede Spielart der Unterwerfung oder Überhebung vermeiden zu können. Seine offene, zwischen den verschiedensten Zeiten und Orten wechselnde Darstellung, die raffinierte, assoziative, aber nie beliebige Montage ermöglichen Genet eine Komplexität der Form, die keine Gattungsgrenzen anerkennt. Souverän werden poetische Prosastücke, harte, fast dokumentarische Beschreibungen, weit zurückreichende Erinnerungen, einzelne, bis ins komplizierte psychologische Detail vorgetriebene Porträts und politische Analysen zusammengebracht.
Hinter dieser offenen Form steht die Philosophie, daß die Wirklichkeit, auch die Wirklichkeit der eigenen Person beim Zusammenstoß mit der Umwelt, prinzipiell unausschöpfbar ist und Zufriedenheit mit der jeweiligen Darstellungshöhe zur literarischen Bewegungslosigkeit führen muß. An der schnellen Einordnung, der abschließenden Bewertung, der Sicherheit der schon vorher fertigen Meinung ist Genet nicht interessiert.
Er war 1970 eben deshalb nach Jordanien gefahren, um ein paar Wochen das Leben in den Lagern des palästinensischen Volkes kennenzulernen. Er blieb zwei Jahre. Der größte Teil des Buches spielt in dieser Zeit, der Zeit der Vertreibung der bewaffneten palästinensischen Widerstandsbewegung aus Jordanien, der Zeit der Massaker durch die Beduinen König Husseins, der Zeit des Aufruhrs und seiner Niederschlagung durch Israel in dem seit 1967 besetzten Westjordanland. 1982 fuhr Genet auf Bitten der PLO in den von Israel angegriffenen Libanon, erlebte den Exodus der PLO aus Beirut, besuchte die von der Falange überfallenen Palästinenserlager Sabra und Chatila und das Grenzgebiet zwischen Jordanien und Syrien, in dem Reste palästinensischer Gemeinschaften eine unsichere Zuflucht gefunden hatten.
Das Buch spielt zwischen 1970 und 1984 in einem ständigen, zeitlich wie räumlichen Hin und Her, eine Bewegung, die der Erinnerung des Autors folgt, nicht der Chronologie der äußeren Ereignisse. Die Darstellung gibt sich weder mit dem bloß soziologischen Blick zufrieden, der sich hier anzubieten scheint, unter dem die Wirklichkeit so leicht zu jederzeit abrufbaren Kategorien verkümmert, noch mit der stolzen Hervorhebung europäischer Empfindsamkeit, die so gern, diesmal ohne den unmittelbaren Einsatz materieller Mittel, den Traum verwirklicht sehen möchte, die Überlegenheit der eigenen Wahrnehmung zu erleben, unter der die fremde Realität erst ihre innere Beschaffenheit offenbart. Genet achtet sehr genau auf den in die Person des Beobachters zurückgenommenen Kolonialismus der Wahrnehmung, die spezifische Begrenztheit und Arroganz dieser Art des Sehens. Er tut das meist in der Form, daß die Reflexion darüber in der Atmosphäre der Beschreibung, in der oft ironischen Selbstbeobachtung des Beobachters aufgehoben ist. Aber die Distanzierung von der unverschämten Naivität des europäischen Gutachters ist für Genet nur ein Schritt, und nicht der wichtigste. Er will mehr. Er will durch alle Befangenheiten hindurch den unmittelbaren Zugang, die unverfälschte Erfahrung, er will im Grunde das Unmögliche, den Ausstieg aus dem Gefängnis eigener zivilisatorischer und kultureller Prägungen, und er will dabei - eine ganz besonders heikle Ironie - die Differenziertheit, die ihm die französische Kultur ermöglicht, nutzen, ohne die in ihr enthaltenen Urteile, vor allen Dingen jene Urteile, die aus einer langen Geschichte des Kolonialismus kommen, zu übernehmen. Er will die Distanz und die vollkommene Hingabe, er will die Leidenschaft, die nur aus der persönlichen Geschichte kommen kann, in dem, was er erlebt, wiederfinden.
Man kann Genets Buch einen politischen Roman nennen, der indirekt die Rekonstruktion jener Realität, die er darstellt, im Kopf des Autors mitbeschreibt. Ein politischer Roman darf heute, wenn er überzeugend sein soll, nicht mehr an frühere Romankonzeptionen erinnern, die zugunsten von leicht ablesbaren Botschaften bewußt die Verfälschung der wirklichen Verhältnisse betrieben und ihre ästhetische Biederkeit damit gerechtfertigt haben, daß sie auf der „richtigen Seite“ stehen. Diese reine Wiedererkennungsliteratur hat längst antiaufklärerische Züge angenommen.
Die historische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, besonders die Entwicklung in den sogenannten sozialistischen Ländern, hat dazu geführt, daß die großen politischen und psychologischen Vereinfachungen ebenso unglaubhaft geworden sind wie die in sich abgeschlossenen Erzählformen, einschließlich der abgeschmackten Psychologie des Ursache -Wirkung-Schemas, der platten Gegenüberstellung von Innen und Außenwelt, der meistens viel zu groben Auffassung der sozialen Bestimmtheit des Menschen und so weiter. Der Realismus in der Literatur ist deutlich schwieriger geworden. Nichts versteht sich mehr von selbst. Alle Übereinkünfte sind längst, ohne daß es noch ausdrücklich erwähnt werden müßte, aufgekündigt. Es handelt sich um eine Wiedergewinnung der Komplexität, der Entdeckung des Geheimnisses von Personen, um die Vermeidung sofort einleuchtender Interpretationen, um die Aufhebung des Scheins, alles sei bereits bekannt, um die Ablehung reduktionistischer Verfahren, um die Entwicklung eines gesunden Mißtrauens gegenüber jener „Klarheit“, die aus der Ignoranz kommt. Der Ausweg kann nicht die Rückkehr zum naiven Glauben an die Durchschlagskraft der privaten Perspektive sein oder der schlappe Wiederbelebungsversuch gewöhnlich falsch verstandener mythischer Entwürfe. Es ist ein Zustand erreicht, in dem die schlechte Wirklichkeit weniger als je zuvor kritisiert werden kann durch die bloße Konfrontation mit Idealvorstellungen. Die Schwäche dieser Position tritt immer klarer hervor, was ihrer dauernden Wiederholung keineswegs abträglich ist, im Gegenteil. Gerade die zunehmende Hohlheit solcher Haltungen macht sie als gefahrlose Mechanismen brauchbar für jede Gelegenheit, bei der der kritische Schein erwünscht ist.
In Genets Buch ist die öde Methode des deterministisch festgelegten Realismus ebenso überwunden wie die Verengung des Blickwinkels durch das Mittelpunktsbedürfnis des identitätsgeschwächten Autors, der nur noch damit beschäftigt ist, die eigene Anschauung durchzusetzen, und sei sie noch so abwegig und verworren. Der darin sich ausdrückende Größenwahn hat ja durchaus auch selbstgenügsame Züge. Er verhindert jene Achtung vor den wirklichen Verhältnissen, die nötig ist, um den fragmentarischen Charakter der eigenen Wahrnehmung und die meistens unbewußt verlaufenen Prozesse der Auswahl wenigstens zu erahnen. Nur so lassen sich die Konventionen des Avantgardismus in der Literatur vermeiden. Nur so ist eine sich selbst problematisch gewordene Subjektivität denkbar, die trotzdem eine überzeugende Erzählperspektive ohne den Beigeschmack der Kleinkariertheit zu konstituieren vermag. Ein modernes Realismusverständnis wird nicht tragfähig sein, wenn es die eigenen Festlegungen nicht unermüdlich in der Produktion in Frage stellt.
Genets begriffliche Klarheit, die unerwarteten Verbindungslinien, die er zwischen weit auseinanderliegenen Ereignissen im Raum und in der Zeit zieht, die Offenheit und Präzision seiner poetischen Bilder - was bei ihm kein Widerspruch ist - gehen über das im engeren Sinn „Politische“ weit hinaus. Das „Politische“, so eng verflochten mit den alltäglichsten Einzelheiten wie im Leben der Palästinenser, wird in Genets Darstellung von aller Abstraktheit und bloß programmatischen Existenz befreit und zu einer erfahrbaren Größe, allerdings nicht nach dem bequemen Motto „Das Persönliche ist unmittelbar politisch“.
Genets Darstellung bewegt sich in diesem Spannungsfeld von retardierenden Momenten, plötzlichen Bewußtseinssprüngen, von der unter dem Druck äußerer Repression notwendigerweise in chaotischen Formen ablaufenden Veränderung, den leuchtenden Augenblicken vollkommener Aufhebung sehr tief verwurzelter Konventionen und dem Rückfall in alte Denk- und Verhaltensmuster, der auch verstanden werden kann als Erholung von den Strapazen der unaufhörlichen Anspannung, mit der Gegenwart fertig zu werden, wobei der Generationsunterschied von zentraler Bedeutung ist.
Genet, 1986 bei Korrekturarbeiten an seinem Buch gestorben, beschreibt in immer neuen Anläufen die Unmöglichkeit für die Palästinenser, Ruhe in der Resignation zu finden. Ihr Kampf ist ein besonders beeindruckendes Beispiel für die Widerstandskraft kleiner Völker gegen die Zumutungen einer ökonomisch und damit auch militärisch überlegenen Macht, die, wenn politisch uneinsichtig, was ja der Normalfall ist, zu immer größerer Härte gezwungen ist, um ihre Position aufrechtzuerhalten.
Verallgemeinerung, ohne sich dabei in Einzelheiten zu verlieren, aber auch ohne die bekannte Tendenz, Einzelheiten, die nicht ins vorbereitete Bild passen, zu unterschlagen. Es sind die alltäglichen Äußerungsformen einer fremden, im Moment der drohenden Zerstörung erfaßten Kultur, die Genet interessieren. Der „Alltag“ erscheint allerdings als eine einzige Ausnahme, wesentlich bestimmt vom immer gegenwärtigen unnatürlichen Tod, der alle treffen kann. Die Intensität, mit der Genet dieses Lebensgefühl beschreibt, zeigt die Tiefe seiner Anteilnahme, die seinen Blick auch schärft für die eigene Geschichte. Im Licht der neuen Erfahrungen, die so oft den Erwartungen widersprechen, erkennt er seine Isolation. Daß die Palästinenser das Leben von Ausgestoßenen zu leben gezwungen sind, erscheint ihm vertraut. Er muß sich nicht anstrengen, um diesen Aspekt palästinensischer Existenz nicht nur intellektuell zu verstehen. Die Empfindung der Nähe wird durch die Gewißheit, nicht dazuzugehören, paradoxerweise noch gesteigert. Nähe bedeutet hier auch immer die Berührung mit dem Tod, dem immer erwarteten, aber immer plötzlich eintretenden Tod befreundeter Fedajin, mit denen Genet auf Stützpunkten, in Dörfern, in Lagern zusammengetroffen ist. Er, der privilegierte Europäer, schöpft Kraft aus der Lebensenergie der kämpfenden Palästinenser. Es ist ein Vampirismus von der freundlichsten Sorte. Er profitiert als alter Mann von der sinnlich-körperlichen Präsenz, von der Lebensfreude der Fedajin, die ihn seine Lebendigkeit, leider auch das Ende, dem er zustrebt, spüren lassen. Europa verschwindet für ihn hinter dem Horizont, ein bloßes Phantom. Die Situation hat sich umgekehrt. So, wie er früher die ihm fernen Konflikte relativ unbeteiligt registriert hat, so schnell entfert sich jetzt von ihm Europa oder vielmehr das, was sein Bild von Europa gewesen ist. Genet, deutlich berührt von der Gespanntheit des Lebens im Angesicht des Todes, fasziniert von der Art, wie die Fedajin über sich selbst, über ihre militärischen Erfolge und Niederlagen sprechen, wird in Gespräche mit den jungen Leuten hineingezogen, in denen sie ihn in einer Mischung aus Spott, Freundschaft, Höflichkeit und Härte zu überzeugen versuchen. Ihre Aufmerksamkeit für das, was er zu sagen hat, erstaunt ihn. Er hat nicht damit gerechnet, für sie irgend etwas Interessantes erzählen zu können. Sie haben Spaß an seiner fremden europäischen Sichtweise. Er ist eine exotische Figur für sie, aber auch der weise alte Mann in einem fernen Land, das sie wie alle anderen Länder im Stich gelassen hat. Er ist der Lernende, und seine Zuhörer wissen das. Sie neigen nicht zur Überheblichkeit, sie begegnen ihm mit Achtung. Sie können die vollkommen frische Neugier von Kindern zeigen, aber diese Neugier ist bei ihnen schon in jungen Jahren verbunden mit einer Welterfahrung, der Genet sich manchmal kaum gewachsen fühlt. Die Porträts sind auch Erforschungen seiner eigenen Phantasien über die Fedajin und die erotische Ausstrahlung, die sie auf ihn haben. Seine Homosexualität schärft seine Wahrnehmung für Stimmungen, Bewegungsabläufe, Lichteffekte, für den Ernst und die Komik gemeinsam vollzogener Rituale, für das elektrische Feld, in dem sich die Personen bewegen. Es entstehen Bilder von großer Eindringlichkeit, voller Trauer in der Erinnerung an die Opfer und über das langsame Verschwinden des Verfassers im Alter.
Jean Genet: Ein verliebter Gefangener. Palästinensische Erinnerungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Aus dem Französischen von Thomas Dobberkau. 529 Seiten, 45 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen