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Ein harscher Dialog

■ Ein alter Arbeiter forderte die Unabhängigkeit Litauens / Gorbatschow brach das Gespräch mit ihm ab

Michail Gorbatschow verlor zum ersten Mal das Lächeln, als am ersten Besuchstag sein Gesprächspartner - ein alter litauischer Arbeiter - hartnäckig die Unabhängigkeit seiner Republik von der UdSSR verfocht. Während der hohe Gast aus Moskau am späten Donnerstag nachmittag eine Motorfabrik in Vilnius besichtigte, verlangte der Alte auf einem Schild die „völlige Unabhängigkeit Litauens“. Gorbatschow wollte wissen, wer ihn dazu aufgefordert habe.

-„Niemand, ich habe es selbst geschrieben“, war die Antwort des Arbeiters.

-„Wer bist du, wo arbeitest du und wie stellst du dir die völlige Unabhängigkeit vor?“

-„Ich denke, es wird wie in den zwanziger Jahren, als Lenin die Souveränität Litauens anerkannte. Keine Nation hat das Recht, eine andere Nation anzugreifen.“

-„Ich weiß genau, daß Litauen sehr ländlich war. Heute kauft es in Rußland Gold, Metalle und Benzin zu niedrigen Preisen. Im Schoß der großen Familie ist Litauen zu einem entwickelten Land geworden...“

An dieser Stelle fiel der Arbeiter Gorbatschow ins Wort: „Wissen Sie auch, wieviele Litauer in den vierziger Jahren nach Sibirien geschickt wurden, und wieviele umgekommen sind...?“

-„Ich möchte nicht mehr mit diesem Alten reden. Wenn es solche Auffassungen in Litauen gibt, kann es sich auf sehr schwere Zeiten gefaßt machen. Ich will nicht weiter mit Ihnen sprechen“, brach Gorbatschow daraufhin das Gespräch ab. Auch ein Mäßigungsappell seiner Frau Raissa konnte ihn nicht besänftigen. Sie hatte dem mächtigsten Mann der Sowjetunion während des Disputs zugeflüstert: „Sei still!“

afp

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