: Swinging Metropolis
■ 58. Der blaue Ludwig
Um das chronologische Fortkommen zu forcieren, gestatte ich mir erneut einen Sprung. Im Vorgriff ward bereits einiges gesagt übers musikalische Treiben in der braun verhängten Zeit. Verhängt im Rückblick, hält sich doch hartnäckig das verschwiemelte Gesamtbild „Alles verboten - nix dagewesen“. Allein die Kempowskische Tadellöser-Chronik macht realistisch, wie Zeitzeugen bestätigen - klar, daß zumindest die Jugend, nicht zuletzt dem Reiz des Verbotenen erliegend, sich die Swingbegeisterung nicht nehmen ließ. (Außerdem war Jazz gar nicht verboten, sondern nur „unerwünscht“, ätsch!)
„Kempowski schreibt eh nur ab“, mag nun der Literaturkundige sagen, und „Trau den Zeitzeugen“ manch selbstherrlich Nachgeborener, als könnte er was für dieses Glück. Tondokumente aber zeugen davon, daß selbst noch mitten im Krieg hartnäckige Kosmopoliten ihr kulturelles Wesen trieben. Im Delphi, dem Spielort mit dem längsten Atem - wenn auch nur noch Schnipp- & Wipplokal, besteht doch seit Kriegsbeginn Tanzverbot -, schneidet man in der Karfreitagsnacht 1941 Teile einer Jam-Session auf Folie mit. Dies allerdings unter Ausschluß der Öffentlichkeit; soweit geht die Blödheit der Reichsmusikkammer denn doch nicht.
Sonst aber lassen sich diese Büttel mit erstaunlich plumpen Mitteln foppen. Ein Oberfopper ist der holländische Bandleader Ernst vant'Hoff, von dem ich nicht weiß, ob er mit Jasper verwandt ist. Er, maßgeblich beteiligt an oben erwähnter Session, arbeitet nach der Methode „Blauer Ludwig“. So lautet das InsiderSynonym für den St. Louis Blues, und van t'Hoff erfindet weitere. Des weiteren sind die Noten frisiert, soll heißen: Auf den Blättern finden sich keine englischen Namen & Bezeichnungen mehr, man gibt vor, eigene Arrangements zu spielen - ein Trick, den Jahre zuvor bereits Teddy Stauffers Original Teddys angewendet hatten.
Die echte Eigenkomposition „Alles wird gut“ darf er gar hochoffiziell auf Schellack pressen lassen, ohne daß die RMK kapiert, was es damit auf sich hat. Wie der Titel dieses van t'Hoff-Themesongs, mit dem er jeden Abend einleitet, gemeint ist, belegen die ersten Takte: Es ertönt, verfremdet, das berühmte Bumm-Bumm-Bumm Bum, das Pausenzeichen des BBC.
Frisieren und kaschieren gehört zum wahrhaft guten Ton; nötig hat's auch die frech & unverblümt hottende Big Band von Fud Candrix. Sie bereichert das Spektrum eingedeutschter Fantasietitel um den Holzhacker-Ball (At the Woodchoppers‘ Ball), In guter Stimmung (In the Mood) und Der große Lärm vom Ku'damm (The Big Noise from Winnetka) - als Baß & DrumSolo.
Wir unterbrechen das Programm für einen Werbespot: Zu sehr großen Teilen beziehe ich mich hier auf Horst H.Lange und sein Buch Jazz in Deutschland, das jedem halbwegs Interessierten nachdrücklich ans Herz gelegt sei; vielleicht wird ers nach erfolgter Lektüre als ganzwegs Interessierter ins Regal stellen.
Lange ist es auch, der über den Abend zu berichten weiß, da sowohl der Belgier Candrix als auch sein Landsmann Jean Omer im Delphi gastieren: „Unvergeßlich blieb für viele Swingfreunde die Erinnerung an die Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1942, als das Orchester Jean Omer bis Mitternacht spielte, dann vom Podium marschierte, während von der anderen Seite das Fut-Candrix-Orchester spielend in den Saal kam, die Plätze der Omer-Solisten einnahm und die Musik mit heißestem Swing fortsetzte. Aus heutiger Sicht mag dies ein relativ bescheidenes Erlebnis gewesen sein, aber damals war es sensationell und wirkte imponierend auf das Publikum, das an den sturen Podiums-Habitus deutscher Cafehaus-Orchester gewöhnt war.“
Neben anderem darf diese Zeit mit Fug & Recht auch eine merkwürdige geheißen werden, kurios in aller Widersprüchlichkeit. So spielen sich die Erfolge der drei genannten „Gastarbeiter-Bands“ in den Jahren eines friedhofsnahen ScheinGesellschaftslebens ab. Im Siegestaumel macht man noch mal auf „international“, und dank der Musikerschwemme aus den besetzten Ländern gibt es gar eine Art „Swingrevival“.
Doch kurz nur währt die Illusion - das letzte Aufbegehren, von Goebbels „Totaler Krieg“ genannt, steht vor der Tür. Als im Winter 1942/43 die Alliierten das Heft in die Hand bekommen, HitlerDeutschland nurmehr mit der Rettung der eigenen Haut beschäftigt ist, kracht beinahe alle „kriegsunwichtige“ Kultur zusammen. Ende 1943 werden die letzten Tanzplatten aufgenommen, die ausländischen Orchester verziehen sich in ihre Heimatländer, sofern sie nicht zur Truppenbetreuung eingesetzt werden. Da & dort, hinter mit Pappe verhängten Fensterscheiben, spielt noch die eine oder andere Kapelle zur Unterhaltung „müder Urlauber und abgerissener Zivilisten“. Zwei Ausnahmen bilden die Orchester von Lubo D'Orio und Kurt Widmann, manchem Berliner auch aus den Nachkriegsjahren noch in guter Erinnerung. Sie spielen für die Wehrmacht, für Ausgebombte & Evakuierte, und - Ausnahme der Ausnahmen - D'Orios Band darf gar noch bis Anfang '45 im Cafe Leon am Ku'damm auftreten.
Das unbefangene Schlürfen diverser Getränke jedenfalls ist vorbei; die „Mickstrinker-Stunde“, wie irrerweise die Cocktailstunde wenige Jahre zuvor in der Frasquita-Bar, Hardenbergstraße, hieß, neigt dem Ende sich. Nur Frohnatur Kutte Widmann läßt sich nicht erschüttern. „Die entartete Kunst hat doch gesiegt!“ soll er 1944, nach Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis, einem Freund quer über die Straße zugerufen haben.
Norbert Tefelski
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