Die Zeit zerrinnt für Michail Gorbatschow

Nach seinem vergeblichen Versuch, die baltischen Republiken mit Moskau zu versöhnen, stehen jetzt die Kaukasus-Regionen am Rande des Bürgerkriegs / Mindestens 22 Menschen starben bei Angriffen von Aserbeidschanern auf Armenier in Baku / Kämpfe auch in Berg-Karabach  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Die Uhrzeiger drehen sich immer schneller für Michail Gorbatschow: Das Ziel des Kreml-Chefs, Zeit zu gewinnen, den Zerfall des sowjetischen Imperiums aufzuhalten und die 15 Einzelrepubliken für die Gesamtheit der UdSSR mitverantwortlich zu machen, scheint unerreichbar. Bei seiner Rückkehr aus Litauen, wo er durch die vage Aussage, eine Mehrparteiensystem sei „keine Tragödie“, die sezessionswillige Bevölkerungsmehrheit nicht mit Moskau versöhnen konnte, sah sich Gorbatschow mit einer weiteren Eskalation der sehr viel gefährlicheren Nationalitätenkonflikte im Kaukasus konfrontiert. Bei schweren Auseinandersetzungen zwischen Aserbeidschanern und Armeniern in Baku waren nach unterschiedlichen Angaben am Samstag zwischen 22 und 30 Menschen getötet worden. Die meisten Opfer waren Armenier. Zu dem Blutbad war es im Anschluß an eine Kundgebung der aserbeidschanischen Volksfront gekommen, auf der rund 70.000 Menschen der Republiksregierung „Untätigkeit“ gegenüber armenischen Ansprüchen vorwarfen. Auch hier wurden Forderungen nach Sezession aus der UdSSR laut. Am Freitag waren zwei von Armeniern bewohnte Dörfer an der Nordgrenze der Autonomen Region Bergkarabach von einem Hubschrauber angegriffen und dann von 100 Extremisten mit Maschinengewehren beschossen worden. Nationalistische Aserbeidschaner organsierten sich in Regimentern mit eigenen Fahnen und verschafften sich primitive Waffen; das Berg-Karabach-Komitee hat Armenier aufgerufen, diesem Beispiel zu folgen.

Sondertruppen des Moskauer Innenministeriums seien auf dem Weg in die Region, um die Kämpfe zu beenden, sagte ein Sprecher der „Nationalen Armenischen Bewegung“ in Eriwan, wo gestern 30.000 Menschen in erregter Stimmung gegen Aserbeidschan und für Schutz aus Moskau demonstrierten. Auf einem Treffen mit Parteiaktivisten aus ganz Litauen am Sonnabend diskutierte Gorbatschow sowohl mit Vertretern der offiziellen litauischen KP, die sich im Dezember auf ihrem Parteitag mit überwältigender Mehrheit von der KPdSU abgespalten hat. Als Präsident der UdSSR legte Gorbatschow dabei mehr Wert auf die Warnung vor dem generellen Austritt ganzer Republiken aus der Union als auf die spezielle Frage des Parteienstatus. „Wir sollten es tausendmal überdenken, ehe wir uns ohne Kompaß, Karte und Brennstoff auf Unabhängigkeitskurs begeben“, mahnte er. Der Präsident des Ober Fortsetzung auf Seite 9

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sten Sowjet versprach den Republiken, daß die gesetzliche Grundlage für einen neuen Unionsvertrag geschaffen werden solle, die den einzelnen Völkern ein Maximum an wirtschaftlicher und politischer Souveränität gewähre und gleichzeitig das Verfahren für den Austritt einer Republik aus der Union gesetzlich regele.

Gleichzeitig deutete Gorbatschow an, daß er bereit sei, seinen bisherigen prinzipiellen Widerstand gegen ein Mehrparteiensystem zu überdenken: „Das wäre keine Tragödie, wenn es vernünftig organisiert wäre und im Interesse der Gesellschaft funktionierte“, meinte Gorbatschow.

Das starre Festhalten der Moskauer Zentrale am Einparteiensystem unter Führung der KPdSU hatte schließlich zur Abspaltung der litauischen Kommunistischen Partei geführt, die fürchtet, den Anschluß an die Entwicklung in den ostmitteleuropäischen Nachbarländern zu ver

passen.

Trotz Michail Gorbatschows Reformpolitik habe sich die KPdSU kaum gewandelt, hielt der litauische Parteichef Brasauskas dem Generalsekretär diesmal vor, aber, so Brasauskas: „Die Zeit wartet auf niemanden, denn das Leben in unserem Land ändert sich fast täglich.“

Noch schneller scheint für Gorbatschow die Zeit für den Versuch zu zerrinnen, die sich dramatisch zuspitzenden Konflikte zwischen den Nachbarrepubliken Armenien und Aserbeidschan in den Griff zu bekommen.

Vor anderthalb Jahren noch, so meinen Experten, hätte man den Konflikt wenigstens für die Armenier noch akzeptabel lösen können, indem man - wie inzwischen praktisch geschehen - diese zum aserbeidschanischen Hoheitsgebiet gehörige Enklave mit armenischer Bevölkerungsmehrheit der Moskauer Zentralregierung unterstellt hätte.

Doch diese, mit Michail Gorbatschow an der Spitze, weigerte sich damals den Status quo zu ändern. Am Wochenende erklärte das Präsidium des Obersten Sowjet in Mos

kau Gesetze der Parlamente der beiden Nachbarrepubliken für ungültig, mit denen diese das umstrittene Gebiet in letzter Zeit in ihre jeweilige Gesetzgebung zu integrieren versuchten.

Eine Fraktion innerhalb der Aserbeidschanischen Volksfront ist allerdings gegen den Austritt, da sie aus der Sowjetunion, zumal nach der Apspaltung der baltischen Staaten, eine neue islamische Gemeinschaft formen möchte. Die sowjetische Nachrichtenagentur 'tass‘ zitierte diese Woche Statements Teheraner Zeitungen, der Zerfall der UdSSR sei den Interressen des Islam entgegengesetzt.

Einer der Sprecher der litauischen Volksfront Sajudis, Virgilius Cepaitis, hatte sich zu Beginn des Gorbatschow -Besuchs in einem Interview mit Radio Moskau persönlich für eine Aufteilung der UdSSR in Separatstaaten ausgesprochen. Cepaitis: „Die UdSSR kann erst nach einem Entwicklungsstadium zu einer stabilen Macht werden, in dem sich eine Reihe souveräner Staaten freiwillig zu einem einzigen Land wiedervereinigen.“