: "Ich will meine Akte wiederhaben"
■ Bei der Stürmung des Stasi-Palastes griffen die Hauptstadtbürger erstmals zu handfesten Methoden
Auf Luxus, wie er in normalen DDR-Geschäften kaum anzutreffen ist, stießen am Montag abend die aufgebrachten Demonstranten, die in das ehemalige Stasigebäude in der Ostberliner Normannenstraße eingedrangen. Mehrere Menschen, die in der ehemals gefürchteten Trutzburg waren, berichteten von Roastbeef in Kühltruhen, von Konservenlagern mit Haifischflossensuppe oder Braten, von umfänglichen Wurstsortimenten. Auch französische Weine, Wild und Geflügel habe man gefunden. Im Stasi-eigenen Frisiersalon wurden Spiegel mit Schaum verziert und Kartons mit teuren West -Shampoos aus den Regalen gerissen.
Während in den Vorratskellern offensichtlich kein Mangel herrschte, waren die Büros der mehreren tausend Mitarbeiter eher spartanisch eingerichtet. „Ich will meine Akte wiederhaben“, skandierten aufgebrachte DDR-Bürger. In den Stasi-Büros wurden Stahlschränke aufgebrochen, die Akten wurden zum Teil aus den Fenstern geworfen, zum Teil lagen sie in den Räumen herum. Neben DDR-Akten sollen auch Dossiers von ausspionierten Bundesbürgern dabei gewesen sein. Auch in die Abteilung für Spionageabwehr sind Menschen eingedrungen, welcher Schaden dort entstand, war auch gestern noch nicht genauer bekannt.
Die Volkspolizei des zuständigen Bezirks Lichtenberg gab gestern eine Rekonstruktion des Eindringens in das Gebäude bekannt: So seien auf den Aufruf des Neuen Forums hin etwa 100.000 Menschen erschienen, nicht jedoch die vom Veranstalter angekündigten 250 Ordner. Unter den Augen der Vopos seien Dutzende von Demonstranten über den Zaun geklettert, die anschließend eine Personenpforte aus den Angeln gehoben und den Riegel eines Tores aufgebrochen hätten. Das Tor wurde dann offensichtlich gewaltsam von außen aufgedrückt, für die wütende Menge gab es dann kein Halten mehr. Binnen kürzester Zeit strömten mehrere tausend Demonstranten in das Gebäude, für die Vopos Zeit für einen Hilferuf: Der gleichzeitig tagende runde Tisch wurde verständigt, woraufhin Ministerpräsident Modrow und einige Oppositionspolitiker an den Ort des Geschehens eilten.
24 Stunden nach den Ereignissen haben die Aufräumarbeiten noch nicht begonnen, die meisten der etwa 40 Gebäude des riesigen Komplexes wurden von Bürgerkomitees und der Staatsanwaltschaft versiegelt. Gestern distanzierten sich Sprecher der Oppositionsbewegung von der Gewaltanwendung. Professor Jens Reich vom Neuen Forum meinte: „So etwas darf es nicht geben.“ Allerdings habe die Regierung mit ihrer zögerlichen Informationspolitik über die Auflösung des Stasi und ihre Verfassungsschutzpläne die Empörung in der Bevölkerung selbst verursacht.
kd
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