: Ein Tor wird zum wütenden Ritter
■ Tankred Dorsts „Parzival“ in Frankfurt
Parzival hat einem Vogel zweimal den Kopf herumgedreht, damit er etwas von der Welt sieht. Jetzt ist der Vogel tot, und der törichte Knabe aus dem Wald wirft ihn weg. Wenn der unerfahrene Jüngling später in die Welt zieht, passiert ihm das immer wieder. Er zerstört, was er in der Hand hält, und wird nicht klüger. In Tankred Dorsts Theaterstück Parzival - das beim Lesen eher wie ein Libretto für Schauspieler oder ein Filmdrehbuch wirkt - hetzt er am Ende immer noch dem legendären Gral hinterher und zertrampelt dabei alles, was ihm unter die Füße kommt. Daß im Gral die Erlösung wartet, wollte noch die mittelalterliche Minnedichtung. Der Tor machte sich auf den Weg und brachte in seiner Reise aus dem Wald in die höfische Gesellschaft Weltbewältigung und persönliches Seelenheil in Einklang. Dorst hat den Traum verabschiedet. Bei ihm taumelt Parzival „durch die kleine Wüste der Taubheit und durch die größere der blinden Taten“. Die Vertreter der Gesellschaft sehen feixend zu - gnadenlos, affektiert.
Als Filmdrehbuch hat auch Robert Wilson die Vorlage verstanden und zu einer seiner Zeitlupen-Collagen verarbeitet. Das war vor zwei Jahren und im Hamburger Thalia -Theater. Inzwischen hat Tankred Dorst weiter an seiner Bühnenerzählung aus dem Reich der Farce, des Mysterienspiels und der Volkskomödie gefeilt und sie jetzt zu einer zweiten Uraufführung dem Frankfurter „Schülerclub“ überlassen. Die Amateure unter Leitung von Alexander Brill bringen seit sechs Jahren jährlich eine Produktion im Frankfurter Schauspiel auf die Bühne und haben vor einem Jahr Dorsts Grindkopf uraufgeführt, wodurch eine kuriose Situation entstand. Während Intendant Rühles in Seenot geratenes Schauspielschiff und seine „professionellen“ Produktionen ins Sperrfeuer der Kritik gerieten, lobte man das Spiel der Amateure. An ihrer neuen Dorst-Inszenierung ist zu sehen, daß der Erfolg nicht von ungefähr kam.
Die Bühne der Frankfurter Kammerspiele zeigt eine Hemisphäre unseres blauen Planeten. Auf ihr hetzt Parzival, sticht dem Roten Ritter die Augen aus und legt der lieblichen Blanchefleur den gemetzelten Pfauenritter ins Bett. Er ist dabei Knabe, stürmischer Jugendlicher, malträtierter Erwachsener und von Brill folgerichtig dreifach besetzt. Dem ersten Parzival (Sebastian Rajkovic) ist wenig Zeit auf der Bühe gegeben, was verständlich ist, denn er kommt sehr schnell in einer anderen Rolle als Sänger und mit Partnerin (Judith Jockel) wieder. Sie begleiten das Wüten des Gralssuchers mit coupletartigen Einlagen.
Dorst hat den dialogischen Teilen seines Stücks unterschiedliche essayistische, lyrische und erzählerische Texte beigemischt, die in Frankfurt zu Songs oder zu schrillen Kurzauftritten werden. Bedeutungsschwangerer Tiefsinn kommt nicht auf, und das tut dem mythischen Parzival gut. Der Autor und dramatische Grenzgänger Tankred Dorst schrieb im Toller Szenen einer deutschen Revolution, fertigte Stücke nach Motiven aus Grimms Märchen und ist für das eher trockene Fernsehspiel Dorothea Merz verantwortlich - hat wohl während des Schreibens gemerkt, daß die mittelalterliche Geschichte aus dem Dunstkreis der Artussage mit atmosphärischen Blitzen aufgehellt werden muß. Er läßt plötzlich die illustre Schar der Surrealisten von Breton bis Man Ray zusammensitzen und sich gegenseitig nach ihren sexuellen Vorlieben und Abneigungen ausfragen. Das passiert, kurz nachdem Parzival seine erste nackte Frau inspiziert hat, und fehlt leider in Frankfurt.
Parzival II (Patrick Heyn) kommt wie ein leibhaftiger Siegfried zum Bett von Jeschute (Natascha Ichstadt). Sein langes Blondhaar weht draufgängerisch, und in der Pause die keine ist - steigt er über die Stuhlreihen, rückt den Zuschauern auf den Leib. Sein Nachfolger, Parzival III (Steve Pedersen), hat kurzes Haar und merklich Federn gelassen. Mr.Sunshine und Mistress Moon, ein abgetakeltes Schaustellerpaar, zünden ihm die Füße an. Er weiß jetzt, was Schmerz ist, aber trotzdem treibt es ihn weiter. Das Stück verklingt wie Ibsens Peer Gynt - ein in die Welt Getriebener landet wieder am Ausgangspunkt und ist keinen Schritt weitergekommen. Wäre es Tankred Dorst nicht gelungen, aus dem Mythenstoff eine Parabel über die Zerstörungswut des Menschen zu machen - sein Parzival wäre keine Inszenierung wert. Hätte der Frankfurter „Schülerclub“ den Fehler gemacht, aus der Vorlage eine märchenhafte Bildungsreise zu inszenieren - von der Reise zu den Frankfurter Kammerspielen müßte abgeraten werden.
Jürgen Berger
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