: Angeblich Millionenschaden bei der Stasi
■ Oppositionsgruppen distanzieren sich von der Erstürmung der Ostberliner Zentrale / Das Gelände wird nun von Volkspolizei und Bürgerkomitees kontrolliert / In Cottbus gingen Fensterscheiben der ehemaligen Stasi kaputt / Demos auch in anderen Städten
Ost-Berlin (ap/dpa/taz) - Die Zehntausende von Demonstranten, die am Montag abend das Hauptquartier der ehemaligen Staatssicherheit stürmten, sind auch in die Abteilung für Spionageabwehr der DDR eingedrungen. Der „operative Schaden“ sei unabsehbar, so der Chef der Deutschen Volkspolizei, Generalmajor Dieter Winderlich. Die Personalien der Mitarbeiter seien jedoch nicht enttarnt worden, der „Quellenschutz“ sei gewährleistet. Durch die Plünderungen ist nach Angaben Winderlichs Schaden in Millionenhöhe entstanden, Menschen seien jedoch nicht verletzt worden. Auf einer ersten Pressekonferenz gegen Mitternacht hatte Ost-Berlins Polizeipräsident Dirk Bachmann den Sachschaden erheblich geringer eingeschätzt: auf einige hunderttausend Mark. Der Generalstaatsanwalt der DDR ermittelt bereits wegen Rowdytums, Diebstahls, schwerer Sachbeschädigung und Hausfriedensbruchs.
Die DDR-Führung habe am Montag abend befürchten müssen, so der stellvertretende Innenminister Winderlich weiter, daß die Gewalttätigkeiten auf das ganze Land übergreifen. Angesichts von Massendemonstrationen in zwölf Städten zur gleichen Zeit habe die große Gefahr einer „Signalwirkung“ der Berliner Ereignisse bestanden.
Als Vertreterin des Bürgerkomitees zur Auflösung der Stasi sagte Hannelore Köhler auf der gleichen Pressekonferenz, sie könne sich vorstellen, daß bereits ausgeschiedene Stasi -Mitarbeiter die Menge mit gezielten Rufen zum Sturm auf das Gebäude aufgehetzt hätten. Auffällig sei gewesen, daß ihr Unbekannte die Demonstranten gezielt in bestimmte Häuser und Räume geführt hätten. Sie und andere Bürger wandten sich aber gegen den Verdacht, die Tore zum Stasi-Gelände seien gezielt von Provokateuren geöffnet worden. „Wenn das nicht passiert wäre, hätte es Tote gegeben.“ Die Menge sei äußerst aggressiv gewesen und habe zu Tausenden gegen die Tore gedrängt.
„Grüne und Bunte“ hätten kameradschaftlich dafür gesorgt, daß es keine Gewalt gegen Menschen gab und die Plünderungen nach einiger Zeit eingestellt wurden. Mitglieder des Bürgerkomitees hätten bis vier Uhr früh im Gebäude kontrolliert, gemeinsam mit Polizei und Staatsanwaltschaft die Räume versiegelt und gleichzeitig die Kontrolle der Zugänge übernommen.
Bürgerkomitee bewacht
nun Stasi-Zentrale
Ähnlich sah es der Ostberliner Polizeipräsident: „Wenn es nicht zu Toten und Verletzten gekommen ist, dann ist das in erster Linie ein Verdienst der Vertreter des Bürgerkomitees, von gewaltfrei demonstrierenden Teilnehmern, der oppositionellen Gruppierungen, ein persönliches Verdienst von Ministerpräsident Hans Modrow und der besonnen handelnden Kräfte der Volkspolizei.“ Modrow war persönlich vor dem Gebäude erschienen, um die Menge zu beruhigen.
Bachmann kündigte an, rechtliche Konsequenzen prüfen zu lassen. Einige der Leute seien wahrscheinlich von Gedanken an Rache geleitet worden und haßerfüllt gewesen, meinte der Polizeichef. Er habe den Unmut, die Unzufriedenheit und Empörung der Bevölkerung über die Arbeitsweise des ehemaligen Ministeriums akzeptiert. Dennoch gelte es, den begonnenen Weg der Sicherheitspartnerschaft fortzusetzen.
Das Gelände im Stadtbezirk Lichtenberg wird nun gemeinsam von der Volkspolizei und Bürgerkomitees kontrolliert. Alle Eingänge sind verschlossen.
Eindringlich appellierte der Vorstand der DDR-SPD an die Bevölkerung, ihren „berechtigten Zorn“ gegen die Institution der ehemaligen Staatssicherheit nicht in Gewalttätigkeiten ausufern zu lassen. Auch das oppositionelle Neue Forum distanzierte sich gestern von der Erstürmung. Dies sei „keine Methode zur Austragung von Konflikten“, sagte Matthias Heinrich vom Pressedienst der Gruppe. Heinrich betonte, daß das Neue Forum zu einer phantasievollen und friedlichen Demonstration aufgerufen habe mit dem Ziel, auf die Schließung der Einrichtung hinzuwirken.
Zu Sachschäden kam es am Abend auch vor dem Gebäude der ehemaligen Stasi-Zentrale in Cottbus. Aus einem vom Neuen Forum organisierten Demonstrationszug mehrerer tausend Menschen, der sich nach einer Andacht in den Norden der Stadt bewegte, lösten sich etwa 50 Menschen und versuchten, in das Gebäude des Bezirksamtes einzudringen. Fensterscheiben gingen zu Bruch. „Nach Aufforderung und im Einvernehmen mit Kräften der Volkspolizei“ verließen die Demonstranten das Gebäude.
Rechtsradikale auf der Leipziger Demo
In Leipzig versammelten sich im Anschluß an das traditionelle Friedensgebet rund 150.000 Menschen. Auf Plakaten und in Sprechchören forderten sie „Nieder mit der SED“, „Gysi raus, Modrow raus“, aber auch „Deutschland, einig Vaterland“. Ein Block von etwa hundert Rechtsradikalen, darunter Anhänger der „Republikaner“, der „ListeD/DVU“ und 50 bis 70 Skinheads, trat besonders aggressiv auf. Sie brüllten „Deutschland, Deutschland!“, „Rote raus!“, „SED weg“ und auch „SPD weg“. Einige verteilten Abo-Angebote der Münchener 'National-Zeitung‘.
Die bislang größte Demonstration seit der Wende in der DDR erlebte Karl-Marx-Stadt: 150.000 Menschen protestierten dort laut 'adn‘. Bei der Kundgebung hätten bundesdeutsche und sächsische Fahnen dominiert. „Viel Beifall erhielt auch der Ruf nach Rückbenennung von Karl-Marx-Stadt in Chemnitz“, hieß es bei 'adn‘.
Rund 150.000 Menschen gingen nach Angaben der Agentur auch in Dresden auf die Straße. Dort wurde für den 24. Januar zu einem Warnstreik aufgerufen.
Weitere Demonstrationen mit mehreren zehntausend Teilnehmern fanden in Halle, Erfurt, Schwerin, Magdeburg, Neubrandenburg, Frankfurt/Oder, Stralsund, Potsdam und Rostock statt. In Erfurt demonstrierten Tausende Ärzte, Schwestern und andere Mitarbeiter des Gesundheitswesens gegen den Pflegenotstand in den Krankenhäusern. In Halle nahmen Tausende Bürger an einer Demonstration des Neuen Forums teil und forderten vor allem den weiteren Abbau der Machtpositionen der SED-PDS. Dem gleichen Ziel diente eine Kundgebung in Rostock. Parallel dazu gedachten Sozialdemokraten der ermordeten Arbeiterführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.
usche
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