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„Bisher wurde praktisch nur Beton verbaut“

Holger Bachmann, Energieanlagentechniker in Stendal, kehrt der siechen AKW-Baustelle frustriert den Rücken / Er bezweifelt, ob das AKW wegen angespannter wirtschaftlicher Situation in der DDR und UdSSR je zu Ende gebaut wird  ■ I N T E R V I E W

Nach seinem Studium der Energieanlagentechnik in Dresden beschäftigte sich der Diplomingenieur Holger Bachmann (30) zunächst mit Forschungsaufgaben im Zusammenhang mit dem Atomkraftwerk Stendal. Seit zwei Jahren arbeitet er unmittelbar auf der Baustelle, zuletzt als „1.Mitarbeiter für Spaltzonenberechnungen“. Inzwischen hat Bachmann, der jetzt auch aus seiner Partei, der SED, ausgetreten ist, gekündigt und wird in einigen Wochen in die Computerbranche wechseln.

taz: Herr Bachmann, Sie werden in Kürze der Baustelle in Stendal und überhaupt der Atomenergie den Rücken kehren. Was hat Sie zu diesem Schritt veranlaßt?

Holger Bachmann: Das ist eine komplexe Geschichte. Den letzten Ausschlag hat die Studie Energie und Umwelt (der evangelischen Kirche zur Energiesituation in der DDR von 1988; d.Red.) gegeben. Die habe ich gelesen und dabei festgestellt, daß bestimmte Sorgen und Ängste, die ich früher schon hatte, sich bestätigten. Daraufhin habe ich meine Grundposition zur Kernenergie noch einmal überdacht.

Wann war das?

Das war im Oktober, November vergangenen Jahres. Außerdem lief auf der Baustelle vieles nicht so, wie es laufen müßte, angefangen bei organisatorischen Problemen. Zum großen Teil werden Dinge gemacht, die einen Monat später schon wieder im Papierkorb landen. Und man weiß das eigentlich vorher schon. Vor zwei Jahren war der Inbetriebnahmetermin noch 1992, jetzt ist der offizielle Termin 1994, und inoffiziell heißt es 1996. Der Termin wird immer weiter nach hinten geschoben. Die Arbeiten, die man macht, werden von neuen Erkenntnissen ständig überholt. Am Ende erscheint einem die eigene Arbeit als sinnlos. Man fühlt sich schließlich wie das fünfte Rad am Wagen.

Was glauben Sie persönlich, wann der erste Block des AKWs Stendal in Betrieb gehen wird?

Nicht vor 1996. Ich glaube sogar, noch später, weil die derzeitige wirtschaftliche Situation in der DDR und auch im Lieferland UdSSR sehr kompliziert ist. Eine einheitliche Organisation des Bauablaufs ist nicht möglich.

Wird denn aus der Sowjetunion noch planmäßig geliefert?

Nein, es ergeben sich immer wieder Verzögerungen. Von bestimmten Anlagenteilen, die gebaut werden sollen, sind noch nicht mal Unterlagen vorhanden. Die Sowjetunion hat uns kein vollständiges Projekt übergeben, sondern nur immer scheibchenweise das, was sie gerade mal fertiggestellt hat. Das ist ein großes Handicap, denn Vorbereitungsarbeiten, die notwendig sind, um das Kernkraftwerk später sicher betreiben zu können, scheitern immer wieder an fehlenden Unterlagen. Man bekommt sie dann irgendwann später und sitzt wieder ein paar Jahre einfach nur rum. Auf deutsch gesagt: Ob man dort draußen arbeitet oder nicht arbeitet, man wird bezahlt. Was dabei raus kommt, ist irgendwann egal.

Mein Eindruck auf der Baustelle Stendal war, daß auch heute am Samstag zumindest im Maschinenhaus von BlockI heftig gearbeitet wird?

Das würde ich nicht sagen. Da haben drei Mann versucht, den Kondensator zu bearbeiten. Eigentlich müßte mehr Betrieb sein. Ich habe Aussagen von Technologen, daß im Januar bisher nur Aufräumungsarbeiten gemacht wurden. Man hat den Eindruck, daß praktisch überall nur Papier zusammengesammelt und der Besuch von Minister Töpfer vorbereitet wird. Dem soll ein sehr schönes Werk vorgeführt werden. Aber was nützt das, wenn's nicht weitergeht.

Für den Laien ist trotz aller Schwierigkeiten schwer verständlich, daß in Stendal seit 1974 gebaut wird und dennoch erst 30 Prozent der vorgesehenen Investitionen verbaut sind. Wenn das in diesem Tempo so weitergeht, stehen die vier vorgesehenen Reaktorblöcke irgendwann in hundert Jahren.

Die ersten sieben Jahre sind praktisch verstrichen, ohne daß viel passierte, weil sich die Konzeptionen laufend verändert haben. Bis 1982 ist außer Bürogebäuden und Werkstätten nichts weiter errichtet worden. Ab 1982 wurde dann langsam mit dem Bau des Kernkraftwerks begonnen. Richtig losgegangen ist es erst 1985 mit dem eigentlichen Baubeginn für BlockI. Bis vor kurzem wurde aber praktisch nur Beton verbaut. Wie es mit den technischen Ausrüstungen weitergeht, das weiß eigentlich keiner. Da werden sicher Probleme von einer ganz neuen Größenordnung auftreten, die gerade unter den jetzigen Umständen kaum zu beheben sein werden.

Ist denn überhaupt noch denkbar, daß alle vier Blöcke als sowjetische Reaktoren gebaut werden?

Wenn überhaupt was zu Ende gebaut wird - was ich stark bezweifle -, dann werden von der Sowjetunion sicherlich nur BlockI und II geliefert werden. Für BlockIII und IV wurden schon seit mehreren Jahren andere Vertragspartner in Betracht gezogen. Im Gespräch waren die CSSR und die Bundesrepublik.

Wie konkret war das im Hinblick auf die Bundesrepublik? Daß da komplette AKWs geliefert werden sollen, ist im Westen erst kurz vor Weihnachten bekanntgeworden.

Mitte der achtziger Jahre sind Verhandlungen oder Informationsgespräche mit Kernkraftwerk-Herstellern aus der Bundesrepublik gelaufen.

Sie haben den Besuch von Vertretern und Vertreterinnen des Neuen Forums Stendal auf der Baustelle mitorganisiert. Sind Sie eigentlich Mitglied im Neuen Forum?

Ich arbeite in der Arbeitsgruppe Energie des Neuen Forums mit, bin aber kein „eingeschriebenes“ Mitglied. Es hat mich auch noch keiner gefragt, ob ich es werden will. Ich meine, daß man sich unbedingt politisch betätigen sollte. Aber es hat bis zum Oktober 1989 genügend Mißbrauch mit politischer Organisierung gegeben. Ich will mich nicht so schnell wieder organisieren. Erst einmal will ich mir innerhalb des großen Angebots politischer Organisationen einen eigenen Standpunkt bilden.

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