: Die Zeit läuft gegen Gorbatschow
■ Verhängung des Ausnahmezustands im Kaukasus als „einseitig“ und „zu spät“ kritisiert / Armenier und Aserbaidschaner rufen zur Mobilisierung auf / Weitere Kämpfe unter Einsatz von Hubschraubern und Panzerfahrzeugen / Breite Berichterstattung der Sowjet-Presse
Moskau (afp/ap) - Trotz der Verhängung des Ausnahmezustands wurden auch gestern Kämpfe zwischen schwerbewaffneten armenischen und aserbaidschanischen Einheiten in der Enklave Berg-Karabach und zwei weiteren Bezirken Aserbaidschans gemeldet. Dabei wurden auch Hubschrauber und Panzerfahrzeuge eingesetzt. Sowjetische Medien sprachen von einem Bürgerkrieg. In den Haupstädten der beiden verfeindeten Sowjetrepubliken Eriwan und Baku gingen Zehntausende Menschen auf die Straßen und riefen zur Mobilisierung auf, um sich gegen die jeweils andere Seite zu verteidigen.
Die Moskauer Führung hatte am Montag abend den Ausnahmezustand in Berg-Karabach, den Nachbarregionen, dem armenischen Bezirk Goris sowie in Regionen entlang der sowjetischen Grenze zu Iran verfügt. Auch Regionen an der Grenze zur Türkei sind von der Maßnahme betroffen. Die sowjetische Führung hatte außerdem beschlossen, Armee- und KGB-Einheiten in die betreffenden Gebiete zu entsenden. Zuvor hatte Ministerpräsident Nikolai Ryschkow angedeutet, daß Moskau erwäge, Berg-Karabach unter Militärverwaltung zu stellen.
Der Sprecher des Armenischen Nationalen Rats in Berg -Karabach, Robert Kotschiarian, nannte die Verhängung des Ausnahmezustands „absurd“. Es sei eher notwendig gewesen, den Ausnahmezustand über Baku zu verhängen, sagte er telefonisch gegenüber 'afp‘. „Armenier in Baku werden getötet, und man verhängt den Ausnahmezustand über Berg -Karabach. Wenn jemand Kopfschmerzen hat, behandelt man ihn nicht am Bauch“, kommentierte er. Ein Vertreter der Aserbaidschanischen Volksfront in Baku erklärte, der Ausnahmezustand werde „nur dazu beitragen, die Situation zu komplizieren“. Der Sprecher erklärte, die Aseris würden ohne Hilfe mit den „Banden armenischer Extremisten“ fertig. Er beschuldigte die Ordnungskräfte, „nur die Armenier zu verteidigen“. Die Volksfront habe die Situation dennoch unter Kontrolle.
Die sowjetischen Medien informierten ausführlich über die Situation im Kaukasus. „Die letzte Nacht in Baku war so grauenvoll wie die vorhergehende“, berichteten zwei Sonderkorrespondenten der sowjetischen Nachrichtenagentur 'tass‘. „Wieder brannten die Feuer der Pogrome, wieder wurde das Blut unschuldiger Leute vergossen.“ Einige Menschen, offenbar Armenier, seien bei lebendigem Leibe verbrannt worden. Nur zwanzig Meter von einer Polizeiwache entfernt seien zwei verkohlte Körper „wie grausige Puppen“ auf einen Abfallhaufen geworfen worden.
Die 'Komsomolskaja Prawda‘ berichtete, in der Region Schaumian hätten sich „Extremisten“ zwei gepanzerte Fahrzeuge der Armee angeeignet und damit das armenische Dorf Asad angegriffen. Ein Milizkommandant und drei seiner Männer seien dabei erschossen worden, ihr Wagen wurde von einem der Panzerfahrzeuge überrollt. Später habe ein Kampfhubschrauber der Armee eines der Panzerfahrzeuge zerstört, so das Blatt weiter. Der Hubschrauberpilot erklärte gegenüber der 'Komsomolskaja Prawda‘, er sei verblüfft gewesen über die Kampferfahrung seiner Gegner. „Ich war in Afghanistan und weiß, was Kampferfahrung ist“, wurde er zitiert. Der Zeitung zufolge wurde eine Marschkolonne in die Region Fortsetzung auf Seite 2
Siehe auch Seite 8
FORTSETZUNG VON SEITE 1
Schaumian im Norden Karabachs entsandt. An der Straße von Agdam in Aserbaidschan nach Nagorny-Karabach seien Schützengräben ausgehoben worden, schrieb das Blatt unter Berufung auf das Militär.
In der Zeitung 'Sowjetskaja Russia‘ hieß es, mehrere aserische Dörfer entlang der Grenze zu Armenien seien von Uniformierten angegriffen worden, die in nicht gekennzeichneten Hubschraubern gekommen seien. In einem Dorf seien mindestens vier Menschen getötet und mehrere Personen verletzt worden. Das Blatt zitierte einen Milizkommandanten mit den Worten, die Angreifer seien wahrscheinlich keine
Soldaten, da sie lange Haare trugen.
Das staatliche Fernsehen stellte die Schwierigkeiten der Truppen des Innenministeriums in den Vordergrund, die von beiden Konfliktparteien beschuldigt werden, die jeweils andere Seite zu unterstützen. Das Fernsehen brachte mehrere Reportagen aus den Kampfgebieten, die in erschütternder Weise das Ausmaß des Hasses auf beiden Seiten dokumentierten. Zu sehen waren Bauern mit vorsintflutlichen Gewehren, die vor ihren verschneiten Höfen patrouillierten. Eine Reportage zeigte Soldaten, die in einer von aserischen Demonstranten blockierten Straße Warnschüsse in die Luft feuerten. Der Reporter fragte einen der Demonstranten, ob er an eine „friedliche Lösung“ des Konflikts glaube. Seine Antwort lautete: „Niemals“.
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