Planerfüllung

■ Die Sündenböcke von Herborn

Wenn ein halber Stadtteil in die Luft gesprengt ist, wenn fünf Menschen verbrannt und 42 verletzt und entstellt worden sind, dann ist es hohe Zeit für intensive Wahrheitsfindung, für einen Mammutprozeß mit 130 Zeugen und elf Monaten Dauer. Aber nur einmal in dem spektakulären Herborn-Prozeß ging es um mehr als um die nachträgliche Suche nach Sündenböcken. Bei diesem einen Mal bemerkte Staatsanwalt Riebeling eher beiläufig, daß die Katastrophe von Herborn jeden Tag wieder passieren könnte. Das ist so banal und doch so richtig. Denn LKW-Katastrophen sind nicht durch Superlaster mit Videokameras und Stoßstangen-Sensoren, nicht mit Doppel- und Dreifachwandungen der Tanks und anderen technischen Aufrüstungen der LKW-Flotte zu vermeiden, sondern allein durch das komplizierte Manöver einer anderen Verkehrspolitik. Doch diese politische Dimension verlor sich in einem Prozeß, in dem die Katastrophe schnell zur „bremstechnischen Kettenreaktion“ mutierte.

Nicht daß die Bestrafung des Fahrers und seines Spediteurs falsch war. Das Unglücksfahrzeug war wegen erwiesener technischer Mängel nicht betriebssicher, und dafür tragen Spedition und Fahrer, die das wußten, die volle Verantwortung. Aber der Unfall von Herborn läßt sich nicht auf menschliches Versagen einengen. Seit 1965 hat sich der LKW-Fernverkehr verdreifacht. Das zulässige Gewicht der „Brummis“ genannten Zivilpanzer wurde von 24 auf 40 Tonnen heraufgesetzt, ihre Maximallänge und -breite ebenso großzügig ausgedehnt. 1.500 Personen fallen in der Bundesrepublik jährlich dem LKW-Verkehr zum Opfer. Und die LKW-Plage wird weiter zunehmen. Die Frachttarife sollen um 25 Prozent fallen, die Grenzkontrollen werden reduziert, die Geschwindigkeiten EG-weit angeglichen, also heraufgesetzt. Im ersten Halbjahr 1989 sind rund 820.000 ausländische LKW mehr auf unseren Straßen unterwegs gewesen, und auch die Zahlen der bundesdeutschen Laster steigen rasant. Bis 1993 fahren 50 Prozent mehr LKW als heute „fern, schnell, gut“. Und im Kreuz der Fahrer sitzen immer gefährlichere Frachten. Die Absurditäten wachsen in den Himmel.

Mit mathematischen Modellen läßt sich heutzutage ziemlich präzise hochrechnen, wieviele Unfälle angesichts solcher Entwicklungen in welchen Zeiträumen mit welchem Ausmaß stattfinden. So gesehen, sind der Unglücksfahrer Josef Vogt und sein Spediteur Hans-Peter Hartmann nichts anderes als die personifizierte Statistik. Plan-Erfüllung könnte man auch sagen.

Manfred Kriener