„Unser Hinterhof hallt von Todesschreien wider“

In die Vertretung Armeniens in Moskau haben sich Flüchtlinge aus Baku gerettet / Gorbatschow wird verantwortlich gemacht / Flugblätter in Baku: „Das glückliche Leben beginnt erst, wenn Armenier, Russen und Tartaren weg sind“  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Das „Armenische Gäßchen“ befindet sich in einem der wenigen alten Viertel der Moskauer Innenstadt. Zwischen den buckligen Häuschen öffnet sich die Aussicht auf ein zierliches und trotzdem großzügig geschwungenes Empirepalais: die ständige Vertretung der Republik Armenien in Moskau. Hier haben sich am Dienstag abend im zweiten Stock etwa hundertfünfzig Menschen niedergelassen, deren Äußeres dem glanzvollen Rahmen kraß widerspricht: Flüchtlinge, die gerade aus Baku gekommen sind - in zum Teil grotesken Gewändern. Da trägt eine schwarzgelockte junge Frau einen Minirock über Trainingshosen und Skisocken, einer anderen lugt unter dem Kleid eine Schaffellweste hervor - um den Hals hat sie statt eines Schals ein Handtuch geschlungen. Manche stecken in grauen Mänteln mit gelben Sternen unterhalb der linken Schulter, die unheilvolle Assoziationen erwecken: „Die haben uns Soldaten in Krasnovodsk“ gegeben - alles was wir am Leibe tragen, hat man uns unterwegs spontan geschenkt!“ Die meisten hier sind mit dem Dampfer über das kaspische Meer evakuiert worden, andere haben sich allein über die Berge durchgeschlagen. Sie verließen ihre Wohnungen vor den herannahenden Pogromtrupps in Küchenkitteln, oft in Schlafanzügen und meistens in dünnen Sandalen oder Pantoffeln. Wer jetzt noch hier ist, weiß wirklich nicht wohin, hat kein Hotel gefunden und kennt keine Seele in Moskau. Die Residenz, soll wie üblich, gegen 20 Uhr geschlossen werden.

Viele Gesichter sind vom Schock verschlossen, soeben hat der Krankenwagen einen Mann abgeholt, der einen Herzinfarkt erlitt. Weinend führt mich eine Frau zu ihrem etwa 40jährigen Sohn, dessen Gesicht blau geschwollen ist, dessen Jackett vor getrocknetem Blut steht: „Sie haben ihn so geschlagen, daß die Lungen geschädigt sind!“ Die 25jährige Lilja sieht mich mit großen, ununterbrochen zuckenden Augen an. Sie war vorzeitig von einer Reise nach Baku zurückgekehrt, wo sie mit ihrer über 70jährigen Mutter allein lebte: „Aserbaidschanische Nachbarn haben uns versteckt, aber Mutter wollte unbedingt noch einmal wegen einer Kleinigkeit in unsere Wohnung zurück. Dort haben sie sie dann totgeschlagen!“

Alle Aussagen stimmen darin überein, daß die Plünderer in Gruppen zu über hundert die Wohnblocks überfallen, die Wohnungen aber meist zu etwa einem Dutzend Jugendlicher betreten. Sie lassen sich von den Anwesenden die Pässe zeigen. „Da habe ich gebrüllt, ich bin doch gar nicht armenisch, mein Papa war Aserbaidschaner!“ erzählt mir ein neunjähriges Mädchen. Alles Wertvolle wird aus den armenischen Wohnungen auf Lastwagen geladen, die Bewohnern mit Messern und Schlagwerkzeugen malträtiert oder ermordet, bisweilen auf dem eigenen, zum Scheiterhaufen geschichteten, Mobiliar verbrannt.

Die Zahl der Opfer, das versichern alle, sei sehr viel größer, als offiziell angegeben. „Wie soll ich den Zahlen glauben, wenn schon unser Hinterhof von Todesschreien widerhallte“, sagt mir ein Mann.

Entgegen den offiziellen Beteuerungen mancher Führer, keine rassistische Politik zu verfolgen, bezeugt der Grapheur Schora aus Sumgait, er habe mit dem Namen der Volksfront unterzeichnete Flugblätter mit Abzählreimen auf russisch gesehen. Ihr Tenor: Das glückliche Leben in Baku könne erst beginnen, wenn Armenier, Tataren und Russen „raus“ seien.

„Daß es zu solchen Ereignissen in dieser so internationalen Stadt kommen würde, hätte ich vor sechs Jahren für ausgeschlossen gehalten“, meint Rusana unter der Zustimmung der Anwesenden. Mehr noch als die Volksfront macht sie die Moskauer Regierung und Ministerpräsident Gorbatschow für die Entwicklung verantwortlich: „Schon die Pogrome von Sumgait, wurden nicht konsequent bestraft. In den zwei Jahren seither sind immer wieder Amenier geschlagen, beraubt und niedergestochen worden - ohne Konsequenzen.“ Dem Pogrom gingen systematische Diskriminierungen voraus. Eine alte Dame hat 26 Jahre in einer Druckerei gearbeitet und erzählt: „Ende September berief die Direktion eine Betriebsversammlung ein und sagte, daß alle Armenier sofort den Betrieb verlassen müssten. Obwohl es schon sehr kalt war, erlaubten sie uns nicht, noch unsere Mäntel und Strickjacken aus der Garderobe zu holen.“

Der Graveur Schora, alleinerziehender Vater einer Tochter, schildert das Schicksal derer, die schon länger hier in Moskau sind: „Wir haben nicht das Recht, uns Flüchtlinge zu nennen und gelten als Umsiedler.“ Anspruch auf regelmäßige Unterstützung haben wir nicht. Vielen, die ihre Dokumente nicht retten konnten, ist es nicht gelungen, Ersparnisse oder Rentenansprüche zu beweisen.

Die befürchtete Schließung des Hauses naht, als der Leiter der ständigen Vertretung, Eduard Aikadjan, zurückkehrt. Schon morgen würden für die Neuankömmlinge Plätze in Erhohlungsheimen um Moskau freigestellt, verspricht er: Außerdem erhalte jede Person eine einmalige Starthilfe, etwa 300 Rubel: „Und wer keine andere Möglichkeit weiß, mache es sich diese Nacht hier nach den Möglichkeiten unseres Hauses“ bequem - ein erleichtertes Aufatmen.

In der Bibliothek wird eine lange Tafel gedeckt. Nein, dies sei nicht das erste Mal, daß diese Vertretung so umfunktioniert werde: „Seit Sumgait stehen wir immer wieder vor dieser Situation.“ Die Regierungskomission arbeite seit anderthalb Jahren, und es sei eine reale Aussicht, daß die Flüchtlinge im Frühjahr Wohnungen in russischen Großstädten erhielten.“ Jetzt sind die Moskauer Hotels mit Armeniern überbelegt - und dabei sollen sie doch rentabel arbeiten!“