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DGB-Vision für Berlin 2000: Modell und Museum

■ Ein Gespräch mit dem DGB-Vorsitzenden Michael Pagels über die Perspektiven der Berliner Wirtschaft nach Öffnung der Mauer

taz: Der 9.November wird allenthalben als Zeitenwende für Berlin interpretiert. Sehen Sie einen positiven Entwicklungsschub für Berlin?

Michael Pagels: Die Hoffnung, daß sich die Berliner Wirtschaft positiv entwickelt, hängt damit zusammen, daß Berlin in das Zentrum beider deutscher Staaten rückt. Oder möglicherweise sogar das Zentrum eines deutschen Staates wird. Wenn es diesen politischen Rahmen gibt, dann wird auch die Geschichte völlig neu geschrieben werden. Geht man aber davon aus, daß beide deutschen Staaten aus weltpolitischen Gründen in ihren jeweiligen Gruppen verankert bleiben, dann befürchte ich, daß es im industriellen Bereich Schrumpfungsprozesse geben wird. Der Dienstleistungsbereich allerdings wird wachsen.

Welche Folgen wird das auf dem Arbeitsmarkt in unserer Stadt haben?

Unsere Argumentation als Gewerkschafter ist, daß die Menschen in einer wachsenden Stadt - wir sind jetzt schon in West-Berlin allein wieder bei 2,1 Millionen, 1996 vermutlich bei 2,3 Millionen - ihren Lebensunterhalt größtenteils mit ihrer Hände Arbeit verdienen müssen. Unsere Befürchtung ist, daß für diese Menschen weniger Arbeit vorhanden sein wird. Und zwar sowohl aufgrund der Investitionsentscheidungen der Unternehmer selbst, weil sie nämlich viel profitabler in der DDR oder in Polen - das ist schließlich nur 80 Kilometer von Berlin entfernt - investieren wollen, als auch deshalb, weil es hier bestimmte Verdrängungsprozesse unter den Arbeitnehmern geben wird. Auch deshalb fordern die Gewerkschaften weitere Arbeitszeitverkürzungen.

Wird Ihre Befürchtung in den Ost-West-Expertenrunden diskutiert?

In all den Gesprächsrunden, die es jetzt zwischen Ost und West gibt, wird viel über Geld, viel Geld geredet, aber kaum über die Interessen der Arbeitnehmer. Viele Menschen haben offenbar nur noch die Registrierkasse im Kopf, aber nicht die Lebenssituation der abhängig Beschäftigten, also Arbeitsplatz, Wohnsituation und Umwelt. Das ist eine der Überlegungen, warum wir hier als Gewerkschaft in Berlin auch einen Regionalausschuß gründen werden, zusammen mit den Gewerkschaften der Bezirke Berlin, Potsdam, Frankfurt/Oder.

Die große Sorge:

Pendlerarbeit

Werden das Problem Pendlerarbeit, also im Osten wohnen, im Westen arbeiten, und auch die Schwarzarbeit ein Gesprächsthema in diesem Ausschuß sein?

Ja, das wird ein ganz wichtiges Thema sein. Schon jetzt erkundigen sich täglich bis zu 100 DDR-Bürger beim Landesarbeitsamt über die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme. Große Sorgen macht mir, daß es bei uns die Möglichkeit gibt, eine sogenannte geringfügige Beschäftigung aufzunehmen. Jeder kann bis zu 470 DM im Monat verdienen, ohne Sozialversicherungsbeiträge abzuführen. Wir befürchten, daß diese Möglichkeit von sehr vielen DDR-Bürgern ausgenutzt werden wird. Aus der Sicht der DDR-Bürger verständlich, aber unsere Forderung zu diesem Teilbereich ist - und das gilt nicht nur wegen der DDR-Bürger, das haben wir schon vorher gesagt: Diese geringfügige Beschäftigungsmöglichkeit muß aus wettbewerbs-, arbeitsmarktpolitischen und sozialversicherungstechnischen Gründen verboten werden. Der zweite Punkt ist eine Frage der Wirtschaftskriminalität, der Schwarzarbeit. Die Kontrollen, die es bis jetzt gibt, sind lächerlich, einfach lächerlich. Insgesamt fehlt in unserer Gesellschaft weitgehend das Bewußtsein darüber, in welchem Außmaß Schwarzarbeit wirtschaftlichen Schaden anrichtet.

Haben Sie Hinweise darauf, daß hier DDR-Bürger schwarz arbeiten?

Da muß ich mit einer Analogie antworten. Wir haben vor einem dreiviertel Jahr gesagt, daß wir Hinweise darauf haben, daß etwa 3.000 DDR-Leute in West-Berlin schwarz arbeiten, vor allem im Bauwesen, Handwerk und Gaststättenbereich. Da sind wir auf eine Mauer des Schweigens gestoßen, in Ost und West. Es gab Hinweise, daß jemand seine Finger mit im Geschäft hatte, der bei einigen Leuten hier in West-Berlin und auch in der Bundesrepublik ein gern gesehener Gast war. Dies hat weitere Recherchen unsererseits verhindert. Den Grund kriegten wir aber erst nach dem 9. November heraus. Jetzt befinden wir uns wieder in so einer Grauzone.

DDR-Bürger

werden hier mißbraucht

Sollten Menschen, die in der DDR leben, hier grundsätzlich nicht arbeiten dürfen?

Nein, man muß nur vertragliche Grundlagen dafür schaffen. Es kann auch in unserem Interesse sein, daß Menschen aus der DDR hier arbeiten, wenn Menschen von uns auch in der DDR arbeiten. Es ist vorstellbar, daß lebenserfahrene KollegInnen von uns in den Betrieben in der DDR helfen, moderne Ablauforganisationen und Produktionsbedingungen aufzubauen. Unser Anliegen ist, daß die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme im beiderseitigen Interesse gelöst wird, damit die Menschen aus der DDR bei uns nicht zum Sozial -Dumping mißbraucht werden. Die Bürger der DDR werden hiesige Verdienstmöglichkeiten inklusive der Vorteile aus den Wechseldisparitäten individuell wunderbar finden, aber sie werden häufig unter dem normalen Tariflohn liegen und damit hier bei uns bestimmte Entwicklungen auslösen.

Was halten Sie von der Förderung mittelständischer Industrie in der DDR durch den Westen?

Ich persönlich halte es für richtig, daß kleine und mittlere Westunternehmen die Chance bekommen, sich in der DDR zu engagieren. Ziel ist, daß sich über diesen Weg der Leistungswille in der DDR erheblich erhöht. Existenzgründungsdarlehen und diverse Kooperationsformen sind daher dem Grunde nach richtig. Aber ich sehe natürlich auch all die Handikaps. Ich weiß zum Beispiel, welche gesellschaftliche Stimmung in Klein- und Mittelbetrieben gegen die Mitbestimmung herrscht. Sicher aber ist, daß all die kleinen und mittleren Unternehmer sehr viel flexibler und schneller handeln als die großen Unternehmen. Sicher ist ebenfalls, daß wegen der objektiven Versorgungsschwierigkeiten in der DDR solche Kooperationsformen schneller eine wirtschaftliche Gesundung einleiten können. Eine Gefahr ist, und da müssen vertragliche Regelungen her, daß die D-Mark sozusagen zur inoffiziellen offiziellen Währung wird. Die Arbeitnehmer werden sich, wenn sich ein Westunternehmen am Betrieb beteiligt, fragen, bekommen wir jetzt unseren Lohn in Ost oder West-Mark. Meine persönliche Meinung ist, daß ohne eine Währungsreform alle Anstrengungen nicht greifen. Die jetzt existierende Wechselparität hebelt alles aus. Geklärt ist auch noch nicht, was mit dem erwirtschafteten Überschuß passieren soll; wird er wirklich reinvestiert, um die soziale Situation der Arbeitnehmer zu verbessern?

Befürchten Sie einen wirtschaftlichen Ausverkauf der DDR?

Es ist sehr wichtig, daß vertragliche Regelungen gefunden werden. Wir bewegen uns da in einem sehr spekulativen Bereich. Unsere Auffassung ist, daß man der DDR die ökonomischen Hilfen zur Verfügung stellen muß, damit dieses Land sich wirklich emanzipieren kann. Den Menschen in der DDR tut es vielleicht weh, aber die DDR ist auch eine bestimmte Art Entwicklungsland. Wir wissen, daß in kleinen und mittleren Betrieben die vorgesehene westliche Kapitalbeteiligung von maximal 49 Prozent nicht strikt eingehalten werden soll, während es bei den großen Unternehmen bei dieser magischen Grenze bleiben wird, die DDR also immer 51 Prozent behält.

Haben Sie einen Vorschlag für die Kombinate?

Die sind zu groß, die müßten dezentralisiert werden. Um einen Ausverkauf zu verhindern, könnte die DDR ja gerade für die Großbetriebe Volksaktien herausgeben. Meines Erachtens schließen sich mögliche Joint-venture-Konstruktionen und Volksaktien nicht aus.

Die DDR darf

kein Billiglohn-Land werden

Besteht die Gefahr, daß die DDR von westdeutschen und Berliner Unternehmen als Billiglohn-Land mißbraucht wird?

Unsere Einschätzung ist, daß diese Gefahr real besteht. Die Unternehmer haben nach dem 9. November deutlich gemacht, daß man helfen will, ohne Auflagen. Jetzt habe ich den Eindruck, daß die Anforderungen sehr hoch gehängt werden, daß sie eigentlich nur investieren wollen, wenn sie auch in der DDR Grund und Boden kaufen können. Das ist eigentlich ein Indiz dafür, daß sie - mit Ausnahmen natürlich - die DDR als zukünftiges Billiglohnland begreifen.

Es gibt jetzt Stimmen in der DDR, die sagen, es ist uns doch völlig egal, ob wir ausverkauft werden oder nicht, Hauptsache, die Wiedervereinigung kommt schnell.

Das ist ein Punkt, den die Menschen in der DDR wirklich selbst entscheiden müssen. Wenn man die Demokratie hochhält, dann muß man das Selbstbestimmungsrecht der Menschen auch hoch halten. Das Selbstbestimmungsrecht beinhaltet auch das Recht zu sagen, wir wollen eine Einheit. Gerade wir Deutschen müssen auch die Meinungen unserer Nachbarn berücksichtigen, von daher ist es richtig, daß eine Einheit sich nur unter dem Dach Europa vollziehen kann. Wir müssen darauf achten, daß dieser Prozeß sich so vollzieht, daß nicht die Rechtsradikalen Oberwasser bekommen.

Die Städte Berlin-West und Berlin-Ost wachsen jetzt wieder zusammen, ob mit oder ohne politische Einheit. Haben Sie eine Vision für das Berlin im Jahre 2000?

Ja, Berlin könnte eine Modellstadt werden. Ein Modell für andere Großstädte und ein lebendiges Modell für Stadtplaner aus der ganzen Welt. Der Großraum Berlin ist gewachsen wie große Finger, die Handfläche ist das Zentrum, und wie Finger schieben sich von dort aus die Grünflächen in das Land. Das ist ein riesiger Vorteil, und den muß man nutzen. Wohnungen müssen gebaut werden, und da gibt es heute ganz viele Erfahrungen, wie großräumiges Wohnen aussehen kann. Warum soll man nicht eine Trabantenstadt bauen, und das sage ich jetzt ganz bewußt, eine Trabantenstadt mit allen sozialwissenschaftlichen und ökologischen Kenntnissen, die wir haben. Also mit einem dritten Brauchwasserkreis, mit Kindertagesstätten im ersten Stock, mit sozialen Einrichtungen. Ein Modellcharakter für andere Städte könnte auch sein, daß man hier ein gemeinsames Abfallkonzept entwickelt. Da bräuchte man nur eine Fläche von hunderttausend Quadratmetern, eine Fläche kleiner als das Olympiastadion. Dorthin wird der Müll, getrennt nach den drei Kategorien kompostierbar, recyclingfähig, verbrennungsnotwendig, gebracht und nach all den neuesten technischen Verfahren emissionsfrei entsorgt. So eine Anlage könnte ein Exportschlager werden. Auch die Rekonstruktion eines öffentlichen Nahverkehrsnetzes für den Großraum Berlin könnte viele neue Arbeitsplätze bringen.

Der 1.Mai

auf dem Potsdamer Platz

Planen Sie in diesem Jahr für den 1.Mai etwas Besonderes?

Dieses Jahr feiern wir zum hundertsten Mal den 1.Mai. Ich habe den Kollegen vorgeschlagen, das ist sozusagen im Gärungsprozeß, was Gemeinsames zu veranstalten. Eine Möglichkeit bestände darin, vor dem DGB-Haus eine Kundgebung zu veranstalten und dann zum Potsdamer Platz zu ziehen und dort eine gemeinsame Veranstaltung durchzuführen. Das Gelände vor dem Reichstag hat den Nachteil, daß er auf Westberliner Boden liegt und das wirkt vielleicht für die Ostberliner KollegInnen zu vereinnahmend. Der Potsdamer Platz ist da neutraler, er ist zwar städtebaulich in einem schrecklichen Zustand, aber dort ist viel Platz für alle.

Interview: Anita Kugler

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