piwik no script img

Sex, Dummheit, Simulation

■ Jean Baudrillards Tagebuch 1980-1985: „Cool Memories“

Jean Baudrillard hat einen ersten Band Erinnerungen veröffentlicht. Disparate „Reflexionen aus dem beschädigten Leben der 1980er Jahre - Baudrillards Minima Moralia“ (Verlagsankündigung). Um an die Dichte von Adornos 'Minima Moralia‘ heranzukommen hätte er allerdings so cool sein müssen, mindestens die Hälfte seiner memories zu streichen, die er in den Metropolen der Welt, als Überflieger, und zuhause, als Soziologieprofessor in Nanterre, gesammelt hat. Andererseits wäre er nicht Baudrillard, wenn nicht noch beim rabiaten Überflug Erkenntnisblitze zu Tage gefördert würden, die trägeren Köpfen selbst bei ausgiebiger Recherche nicht kommen.

Zum Beispiel eine Notiz über die Obszönität einer Tugend, die noch hemmungslosen Pessimisten wie Schopenhauer letzte Bastion einer besseren Welt bedeutete, das Mitleid: „Der Wahnsinn ist nur wegen der Behandlung obszön, der Behinderte ist nur aufgrund der Sorge, die man ihm entgegenbringt obszön (handicapped is beautiful). Obszön ist, was die Grausamkeit des Bösen in der Sentimentalität des Blicks ertränkt. Obszön ist vor allem das Mitleid, die schamlose Herablassung.“

An solchen, leider nicht sehr zahlreichen Stellen, öffnet sich die heilsame Bodenlosigkeit des Baudrillardschen Denkens, zeigen sich Simulation - Mitleid als „Brot für die Welt die Wurst bleibt hier!„-Haltung - und Unmöglichkeit der Wahrheit: was könnte an Stelle von Mitleid als „schamloser Herablassung“ stehen?

Oder was, um eine andere Bemerkung zu zitieren, anstelle der Dummheit der Politiker: „Man muß sich natürlich unterwerfen, aber unter Dümmere als man selbst. Darin liegt das große Gesetz des politischen Universums. Das zeigt sich hervorragend in der UdSSR (Sinowjew berichtet von der pharaonenhaften Dämlichkeit der sowjetischen Führerfiguren, an die nur die pharaonenhafte Unterwürfigkeit der Sowjets selbst heranreicht), aber auch bei uns: Warum werden Marchais, Le Pen, Chirac und andere Hampelmänner subtileren Leuten vorgezogen? Warum dämmern sie nicht seit langem in ihrer Eselei dahin? Weil sie eben das beste Heilmittel gegen die Angst aller vor Herrschaft und Vormachtsstellung der Intelligenz sind. Sie flößen unserer eigenen Torheit Mut ein, darin liegt ihre vitale Funktion, wie es einst die des Schamanen war. Wie sollte man Dummheit bannen, wenn nicht durch größere Dummheit?“ Müßte dann nicht der Super-Schamane Kohl die Dummheit hierzulande längst gebannt haben - als radikaler Skeptiker glaubt Baudrillard natürlich nicht an diese Möglichkeit.

Einigermaßen überraschend bewegt sich der radikale Philosoph, was die Kritik der technischen Revolutionen betrifft, durchaus auf konventionellen Bahnen. Zwar markiert das den Eintragungen des Jahres 1984 vorangestellte Motto „Denn die Differenz ist schön, aber die Indifferenz ist erhaben“ eine Message, die das gesamte Buch durchzieht, doch bei allem Lob der Ununterscheidbarkeit von Sein und Schein, Realität und Simulation, klingt immer wieder Wehmut angesichts des Verlusts des Wahren und Echten durch. Daß Computer die menschlichen Hirne künftig nicht nur brachliegen lassen werden, sondern sie auch (Biochips!) erweitern und verbessern können (und sei es nur, um festzustellen, daß die menschliche Dummheit auch mit Geistes -Prothesen nicht kurierbar ist) - dieser Gedanke geht auch Baudrillard zu weit. Und vielleicht hat er deshalb so zahlreiche Eintragungen einer eher traditionellen Tätigkeit gewidmet, die sozusagen die letzte Bastion der Wirklichkeit darstellt: dem Sex. Auf Terassen, in Hotelzimmern, sei es in Brasilien oder in Berlin, immer und überall hat es der kleine Franzose mit den Frauen. Das Weibliche zieht ihn so oft hinan, daß er die Notiz auf Seite 39 nur äußerst selbstkritisch gemeint haben kann: „Die fleischliche Hast, mit der er in unregelmäßigen Intervallen bestimmte Bessensheitsgesten oder unkeusche Handlungen ausführt, kennzeichnet den niedrigen Libertin. Der Passionierte oder wirkliche Libertin ist es sich schuldig, sie zu festgesetzter Uhrzeit auszuführen.“

Mathias Bröckers

Jean Baudrillard: Cool Memories 1980-1985, übersetzt von Michaela Ott, Verlag Matthes & Seitz 1989, 256 Seiten, 42 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen