: „Sport, Wissenschaft und Kunst in einem“
■ Schachweltmeister Garri Kasparow plaudert über Lenin, Bogart, Wojtyla, Khomeini, Lauda und Becker
Frage: Unser Freizeitvergnügen wird immer greller. Hat Schach da überhaupt noch eine Chance?
Kasparow: Schach wird sich dank seiner hohen kulturellen Tradition immer durchsetzen. In näherer Zukunft womöglich sogar als Gegenreaktion auf die maßlose Reizüberflutung im Freizeit- und Spielbereich.
Schach wird als „Logik pur“ bezeichnet. Wie paßt dazu, daß Sie Phantasie und Einfühlungsvermögen im Schach propagieren.
Schach ist weit mehr als reine Logik. Schach ist Sport, Wissenschaft und Kunst in einem. Beim Schach werden Werke geschaffen. Logik ist für den Spitzenspieler nur der sorgfältig vorbereitete und gepflegte Boden, auf dem er sich bewegt. Die Siege werden im kreativen Moment gefeiert.
Ist Schach also nur ein Spiel für besonders intelligente Leute?
Ist das Stemmen von Hanteln nur etwas für besonders starke Männer?
Was sind aus Ihrer Sicht die typischen Fehler eines Anfängers?
In aller Regel versteht es der Anfänger nicht, auf seine Figuren zu achten. Sie sind schlecht verteidigt. Dann sind die Pläne des Anfängers meist zu kurzfristig. Oft denkt er nicht über die nächsten beiden Züge hinaus. Er muß lernen, tiefere Pläne zu machen.
Und typische Fehler der Fortgeschrittenen?
Die bleiben häufig in der Theorie hängen. Sie verbeißen sich in die Beherrschung von Eröffnungen, versäumen es, die Partiemitte mit Ideen zu füllen und entwickeln nicht konsequent genug ihre Endspielphantasien.
Beim weltgrößten Hersteller von Schachcomputern sind Sie als Berater tätig. Geräte für 200 Mark schmücken genauso Ihren Namen wie Computer für weit über 1.000 Mark.
200 bis 300 Mark, mehr sollten 92 Prozent aller Spieler nicht ausgeben. Nur für die restlichen acht Prozent lohnen sich die Supergeräte.
Wo liegt der Unterschied?
Es gibt Millionen von Autofahrern, aber nur einen Stirling Moss oder Niki Lauda.
Mensch und Computer - ein Weg in die Einsamkeit?
Im Gegenteil. Ein Schachcomputer ist ein Lehrinstrument. Wer einen solchen Computer hat, sucht über kurz oder lang auch Menschen, denen man sein neuerworbenes Können mitteilen kann. Im Falle Schachcomputer wird der zwischenmenschliche Kontakt eindeutig gefördert.
Bei einem Spiel der Logik - worin liegt der Unterschied, ob ich gegen einen Menschen oder einen Computer spiele?
Der Mensch schwitzt, leidet, reagiert, hat Ausstrahlung. Ein Mensch als Gegner wirkt auch in besonderer Weise auf die Inspiration und Intuition. Der Computer ist zum Lernen besser, für Experimente, fürs Probieren. Was wäre, wenn ich das...? Aha! Und was wäre aber, wenn ich so und nicht so...?
In welchem Land der Erde gibt es, relativ zur Bevölkerungszahl, die meisten Schachspieler?
Ich glaube in Island. Die 250.000 Einwohner dort sind fast alle schachbegeistert.
Gibt es Länder, in denen überhaupt kein Schach gespielt wird?
Offiziell dürfte es im Iran keine Schachspieler geben. Meines Wissens hatte Khomeini das Schachspielen verboten.
Wer sind die prominentesten nichtprofessionellen Schachspieler der Welt?
Ich beginne mit zwei sehr prominenten russischen Schachbegeisterten: Leo Tolstoi und Lenin. Dann wäre da noch Papst Wojtyla, der, soviel ich weiß, sogar ein ziemlich erfolgreicher Schachturnierspieler in Polen war. Humphrey Bogart war Schachspieler. Von den prominenten Deutschen fallen mir spontan der derzeitige Bundespräsident Richard von Weizsäcker ein, der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und dann noch Boris Becker.
Woran liegt es, daß die meisten Weltklassespieler aus der Sowjetunion oder anderen Ländern Osteuropas kommen?
Es ist richtig: Mehr als die Hälfte aller Weltklassespieler kommt aus der UdSSR. Die Basis dort ist ungeheuer breit. Es gibt auf der Welt rund sechs Millionen eingetragene Mitglieder in Schachvereinen beziehungsweise Föderationen, davon allein mehr als vier Millionen in der UdSSR. Schach ist hier einfach Nationalsport, ähnlich wie in Jugoslawien und Ungarn.
Apropos Ostblock. Was sagen Sie als weltgereister Russe zur derzeitigen politischen Entwicklung in der Sowjetunion?
Ich bin glücklich, als Bürger der Sowjetunion in einer Zeit leben zu dürfen, die es mir - wenn auch erst seit kurzem erlaubt zu sagen, daß die UdSSR trotz Perestroika noch weit davon entfernt ist, einen wirklichen Wandel zu erleben. Die ganze Welt muß ein Interesse daran haben, daß die Umgestaltung von Grund auf vollzogen wird. Mir scheint es, als hätte man in der Sowjetunion immer noch Angst, den letzten Schritt hin zur echten Demokratie und zum Mehrparteiensystem zu tun. Es könnte sein, daß Gorbatschow selbst vor diesem letzten Schritt noch zurückscheut, weil er nicht glaubt, daß sein Volk diesen rapiden Wandel verkraften würde. Ich finde, wir haben keine andere Wahl, als den Versuch trotzdem zu machen - so schnell wie möglich.
Zurück zum Schach. Wann findet ihr nächster Auftritt in der Bundesrepublik Deutschland statt?
Bislang gibt es für 1990 noch keinen festen Termin für die Bundesrepublik. Allerdings spricht einiges dafür, daß ich irgendwann im nächsten Jahr in der BRD eine Simultanpartie spielen werde, die auch für meine Begriffe etwas Sensationelles hat, nämlich einen etwa einwöchigen Großkampf gegen die gesamte deutsche Schach-Nationalmannschaft, in deren Reihen sich allein vier Großmeister befinden.
Sie leiten auch eine eigene Schachschule. Von welchem Alter an kann man mit dem Spiel beginnen?
Sehr früh. Meiner Erfahrung nach sind Kinder vom vierten Lebensjahr an durchaus schon in der Lage, den Sinn des Schachspiels zu erkennen und in Schachdimensionen zu denken. Andererseits kann man aber auch sehr spät damit beginnen. Das beste Beispiel dafür ist der amerikanische Großmeister Ruben Fine, der, glaube ich, erst im Alter von 19 Jahren zum Schach gekommen ist. Das Großartige an Schach ist, daß es sowohl von sehr jungen Menschen schon sehr gut gespielt werden kann als auch von Menschen in sehr hohem Alter.
Interview: Robert Forst/dpa
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen