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Argentinien: Von Hyperinflation zu Hyperrezession

Enteignung der Besitzer von Sparguthaben / Schocktherapie der Menem-Regierung macht Bargeld zur Mangelware / Spekulationen über einen neuen Militärputsch  ■  Aus Buenos Aires Gaby Weber

Die Krise hat einen neuen gutbezahlten Job geschaffen: den „Colero“. Cola heißt Schlange, und ein Colero ist ein Schlangesteher. Diese Spezies bevölkern zur Zeit die City von Buenos Aires, wo sich das „Finanz-Vaterland“ konzentriert: Banken, Wechselstuben, Geldtische im Hinterzimmer und die „Arbolitos“, die Bäumchen, die mit grünen Scheinen am Straßenrand stehen und den Passanten „dolares, dolares“ zuflüstern. Auf die Banken findet derzeit ein wahrer Sturm statt, der am wenigsten den Sondersteuern und den Einzahlern zu verdanken ist (Rechnungen können nicht überwiesen sondern müssen bar entrichtet werden).

Angesichts der Geldknappheit versuchen alle noch etwas von ihren Konten zu ergattern. Um acht Uhr öffnen die Schalter, aber es empfiehlt sich, schon viele Stunden vorher Schlange zu stehen. Der von den Bankkunden engagierte „Colero“ kassiert fünf „Lukas“ pro Stunde, umgerechnet drei Dollar, bei Regen und brennender Sonne wird ein Sonderzuschlag fällig.

An vertrauenswürdigen „Coleros“ besteht Bedarf, während in anderen Branchen die Beschäftigung um 22 Prozent zurückgegangen ist, im Baubereich allein um 60 Prozent. Seit den Schockmaßnahmen der Jahreswende trat das Land innerhalb einer Woche von einer Hyperinflation in eine Hyperrezession. Die Industrie antwortete mit Kurzarbeit und Entlassungen (allein in der Automobilbranche 8.000), der Handel brach endgültig zusammen.

Am 1. Januar hatte die Regierung alle fest angelegten Gelder - insgesamt über drei Milliarden Dollar - in sogenannte Bonex verwandelt, eine Art Bundesschatzbrief. Sie werfen zwar Zinsen ab, sind aber frühstens in vier Jahren einzulösen. Im Dezember hatte die Regierung verfügt, daß alle Geldinstitute 80 Prozent ihrer Spareinlagen bei der Zentralbank hinterlegen müssen. Dafür versprach sie, für die Begleichung der fälligen Zinsen gerade zu stehen. Der Staat brauchte Geld, denn immer noch spielen die 40 Staatsbetriebe ein jährliches Defizit von 5,5 Milliarden Dollar ein, davon allein die Eisenbahn 4 Millionen täglich. Dadurch sollte die im Umlauf befindliche Geldmenge massiv eingeschränkt und der Höhenflug des Dollars gestoppt werden.

Die Agroexporteure hatten, nachdem man ihnen den freien Wechselkurs eingeräumt hatte, erwartungsgemäß ihre Devisen nicht in Landeswährung getauscht, sondern sie ins Ausland geschafft oder gehortet. Um diese Dollars herauszukitzeln, boten die Banken Ende Dezember monatliche Zinsen von 700 Prozent an (in Worten: siebenhundert). Die Zentralbank mußte für das angelegte Geld alle sieben Tage bis zu sechs Milliarden Dollar fällige Zinsen aufbringen. Dies konnte natürlich nicht gutgehen, der Silvestercrash war absehbar.

Knappe Australes

„Wir haben der Spekulation einen harten Schlag versetzt“, verteidigte sich Präsident Carlos Menem gegen seine aufgebrachten Landsleute, die sich mit einem Federstrich von einem Tag auf den anderen um ihre Ersparnisse gebracht sahen. Niemand glaubte den Versprechungen, daß die Regierung diese Wertpapiere angemessen verzinsen und einlösen werde. Viele verhökerten die Bonex zu 30 Prozent ihres Nominalwertes auf dem freien Markt. Der jüngste Schock hatte nicht nur die typischen Spekulanten getroffen. Geldgeschäfte sind argentinischer Volkssport und zugleich Überlebensstrategie. Keiner kann sich der Epidemie entziehen. Wer 50 Dollar in der Hand hat, sucht sich eine zinsbringende Anlage. Die ganze Familie zerbricht sich den Kopf: Bank oder Geldtisch? Festlegen für sieben, 30 oder gar 90 Tage? Welche Währung, Australes oder Dollars? Oder gleich einen Schwung U-Bahnfahrkarten, Telephonmünzen oder Lebensmittel kaufen? Ganze Monatslöhne wanderten an die Geldtische, und gelebt wurde von den Zinsen.

Diese kurzfristigen Spareinlagen wurden für die Zukunft verboten und gleichzeitig alle Kredite ausgesetzt. In Buenos Aires sind inzwischen die Australes so knapp wie die Devisen; die Geldpressen wurden drastisch heruntergefahren, und wer Bargeld braucht, muß vor seiner Bank lange Schlange stehen, um überhaupt noch ein paar Scheine zu ergattern. Zwar waren von den letzten Maßnahmen Girokonten und Sparbücher nicht betroffen, für die die Zentralbank ausdrücklich eine hundertprozentige Garantie übernommen hatte. Aber das ist nur Theorie. Da es keine Australes mehr gibt, kommen selbst die Inhaber eines Girokontos kaum noch an Bargeld heran und werden mit einem Scheck mit vielen Stempeln vertröstet, der nirgendwo einzulösen ist. „Holt die Dollars unter der Matzratze hervor“, konterte Menem den Unternehmern, die keine Löhne mehr zahlten; die gigantische Kapitalflucht von über 40 Milliarden Dollar, so der Präsident, seien schließlich keine „Arbeitergroschen“.

Weil niemand mehr Geld zum Einkaufen hat, brach auch der Handel zusammen. Medikamente sind inzwischen nicht mehr zu kriegen, vor den Tankstellen warten kilometerlange Schlangen, die Geschäfte öffnen gar nicht erst. Keiner weiß, wie es weiter geht und wie zu kalkulieren ist. Zu welchem Preis soll der Einzelhandel verkaufen, wenn er nicht weiß, was er morgen seinem Lieferanten bezahlen muß, um die Regale wieder zu füllen? Es gibt weder Geld noch Waren, und längst wird wieder geplündert.

Wie es weiter gehen soll, weiß wahrscheinlich nicht einmal die Regierung, die ständig neue Maßnahmen ankündigt und die Hälfte davon am nächsten Tag wieder zurücknimmt. Die Zeitschrift 'Somos‘ befragte sechs namhafte argentinische Wirtschaftswissenschaftler über den neuen Wirtschaftsplan, und alle sechs Kapazitäten prophezeiten etwas anderes: „Massive Preissenkungen“, „Hyperrezession“, „Hyperinflation“ und „schnelle Wiederbelebung“.

Das argentinische Chaos ist dem unerbittlichen Streit der drei mächtigen Lobbies zu verdanken. Das Finanzkapital, auch „Finanz-Vaterland“ geschimpft, bestimmte durch die Spekulation die vergangenen 15 Jahre der Nation. Die zweite starke Lobby sind die Industriellen, die einst unter Peron groß wurden und für einen Binnenmarkt, staatliche Subventionen und gute Löhne eintreten. Und schließlich versucht die Oligarchie, die argentinische Realität ihren Interessen anzupassen. Ihr Vorreiter ist der Agromulti Bunge und Born.

Die Agroexporteure wollen ein Modell nach chilenischem Vorbild errichten. Im Andenstaat waren vor zehn Jahren die Spekulanten und die Neoliberalen (Chikagoboys“) entmachtet und die Mehrzahl der Banken - vorübergehend - vom Staat zwangsverwaltet worden. Danach entstand durch gezielte Kreditpolitik das exportorientierte Modell in der Landwirtschaft, im Fischfang und in der Forstindustrie. Diese Strukturreform steht nun in Argentinien unter dem Schlagwort „produktive Revolution“ auf der Tagesordnung. Zunächst muß dazu die Inflation kontrolliert werden, die 1989 auf 4.923 Prozent geklettert war. Danach wird das Finanzkapital, das Gelder in die Spekulation statt in die Modernisierung umleitet, in seine Schranken verwiesen werden - ein Schritt, der jetzt vollzogen wurde. „Die Argentinier haben die Kultur der Arbeit, der Produktion und der Traditionen verloren“, so Menem, „unsere Kultur schrumpfte auf die Kultur der Spekulation und des Geldanlegens, von der man lebte, ohne zu arbeiten.“ Und es scheint auch alles nach Plan zu laufen: Die US-amerikanische Citi-Bank hat sich groß in der argentinischen Zelluloseindustrie eingekauft, die Japaner und die Sowjets ein Fischfang-Abkommen geschlossen. Und der IWF hat einen Milliardenkredit für die geplanten Reformen versprochen. Dank der guten Ernte und der Erfolge in der Erdölindustrie wird für dieses Jahr mit einem Handelsüberschuß von über 7 Milliarden Dollar gerechnet. Dann soll, nach fast zwei Jahren, auch wieder die Auslandsschuld bedient werden.

Für die Einführung dieses Wirtschaftsmodells war in Chile eine Diktatur notwendig, die ohne Rücksicht auf Verluste und Wählerstimmen den Binnenmarkt zerschlagen, die einheimischen Unternehmer entmachten und die Superausbeutung der menschlichen Arbeitskraft gewährleisten konnte.

Schon heute wird in Argentinien wieder offen von einem Putsch gesprochen. Warum wohl wurde den Militärs gerade eine 200prozentige Lohnerhöhung zugestanden, über die sie selbst erstaunt waren? Innerhalb seiner Partei stößt der peronistische Präsident auf zunehmenden Widerstand und wird öffentlich als „Verräter“ und „Hurensohn“ beschimpft. Wer wird in einem Land, in dem Hunderttausende nur dank der Armenspeisungen überleben, eine Demokratie verteidigen, die nur Elend und Hunger gebracht hat?

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