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Die Kunst des Rückzugs

Bundestagsrede von Antje Vollmer (Grüne) zur gestrigen deutschlandpolitischen Debatte  ■ D O K U M E N T A T I O N

Auch ein kalter Krieg ist ein Krieg. Wir sollten die Ereignisse, die derzeit die Sowjetunion und alle ost- und mitteleuropäischen Länder erschüttern, einmal unter dem Aspekt betrachten, daß es sich wirklich um Erosionen und Wirren am Ende eines Krieges handelt. - Nur eben eines kalten Krieges. Diesen Krieg hat die Sowjetunion verloren. Sie hat ihn verloren infolge der Hochrüstung, mit der sie sich zu Tode gerüstet hat und zu Tode gerüstet wurde. Sie hat ihn verloren infolge der technologischen Unterlegenheit, wofür die Cocom-Liste der symbolische Ausdruck eines westlichen Mauerbaus war. Sie hat ihn verloren infolge der inneren Widersprüche, die in einem Weltreich, das so viele Nationalitäten zusammenzwingt, unvermeidlich sind. Und sie hat ihn verloren infolge der eigenen unerträglichen demokratischen Unfreiheit in einem System, das sich selbst „Diktatur des Proletariats“ genannt hat.

Hans Magnus Enzensberger hat neulich gesagt: „Die wahren Helden unserer Zeit sind nicht die, die Kriege gewinnen, sondern es sind die Helden des Rückzugs.“

Seit der Erkenntnis, daß der Krieg verloren ist, organisiert Michail Gorbatschow den Rückzug: den Rückzug aus Afghanistan, den Rückzug der sowjetischen Raketen und Truppen, den Rückzug vor allen Dingen aus den gigantischen Bürokratien, die längst bei weitem mehr Kosten als Nutzen verursacht haben, den Rückzug aus manchen Projekten zur Unterwerfung der Natur in den weiten Ebenen Rußlands. Die Völker in dem riesigen sowjetischen Weltreich merken dieses „Blasen zum Rückzug„; die Ränder drängen nach Autonomie, die alten Konflikte brechen auf. Und wie reagiert der Westen; wie reagiert die Nato?

Sie reagieren, wie sie es in den Kriegsstrategien des 18. und 19.Jahrhunderts gelernt haben: Wer einen Krieg gewonnen hat, sei es auch einen kalten Krieg, der rückt vor. Der schickt seine Armeen nicht nach Hause. Der schickt seine Berater an die Front. Seine Unterhändler, seine Kommissare.

Und in dem Zusammenhang lassen Sie uns jetzt die politischen Vorstöße von Helmut Kohl diskutieren. In der Kategorie des kalten Krieges war die Bundesrepublik ein westlicher Frontstaat. Nun, wo der kalte Krieg gewonnen ist, steht sie in der ersten Reihe der ökonomischen Vorwärtsstrategie.

Das macht den ungeheuren Standortvorteil gegenüber unseren Partnern in der EG aus, die das sensibel und nervös registrieren.

Dazu kommt aufgrund der deutschen Geschichte etwas Besonderes: Die Generation der Gründerväter der Bundesrepublik war geprägt davon, daß der Drang der deutschen Politik des „Dritten Reiches“ nach Osten bezahlt werden mußte mit dem Verlust der Einheit. Davon hat sie sich fortdauernd beschämt gefühlt. Der gewonnene kalte Krieg macht nun plötzlich einen ökonomischen Weg nach Osten frei und verspricht gleichzeitig die Wiederherstellung der Einheit quasi zum Nulltarif. Er verspricht also die Umkehr der Ergebnisse des Hitlerkrieges, den Ausstieg aus seiner Geschichte.

Das ist eine Veränderung der europäischen Welt, wie sie sonst nur durch gewaltige und heiße Kriege möglich wurde. Und weil dieser Geist der Vorwärtsstrategie und des nationalen Vorteils das Handeln und Denken Helmut Kohls bestimmt, gerade deswegen kommt der Diskussion um die Grenzfrage auch eine so große symbolische Bedeutung zu.

Warum will Helmut Kohl sie nicht anerkennen? Der Grund, den Helmut Kohl angibt - daß er nämlich als Repräsentant der Republik sich nicht gegen die Verfassung stellen könne -, ist doppelt falsch.

Einmal wegen der Verfassungsinterpretation - und zum anderen, weil der Kanzler dadurch als dritter führender Repräsentant der Bundesrepublik die beiden ersten - Richard von Weizsäcker und Rita Süssmuth - des Verfassungsbruchs zeihen würde. Seine tatsächlichen Gründe sind andere:

Erstens: Die Anerkennung der Grenze ist ihm ein Faustpfand für das Aushandeln der deutschen Einheit gegenüber den deutschen Nachbarn. Etwas, das historisch entschieden ist die polnische Westgrenze - soll eingetauscht werden gegen etwas, das keineswegs feststeht: nämlich die deutsche Einheit.

Damit das gelingt, muß das, was feststeht - nämlich die polnische Westgrenze -, solange diskutiert werden, bis sie als unsicher erscheint. Auf der anderen Seite muß das, was nicht feststeht - die deutsche Einheit -, solange herbeigeredet werden, bis alle daran glauben.

Der zweite Grund für die Grenzdebatte liegt darin, daß mit der fortdauernden Diskussion um die polnische Westgrenze etwas anderes nicht mehr diskutiert werden soll. Die Bundesrepublik hat bis heute die NS-Opfer in Polen und den anderen osteuropäischen Staaten nicht entschädigt; die Bundesrepublik hat - anders als die DDR - nur äußerst bescheidene Reparationszahlungen geleistet.

Käme es aber zur deutschen Einheit, müßte es verfassungsgemäß einen Friedensvertrag geben, der die Grenze und alle Entscheidungsforderungen definitiv zu regeln hätte. - Für diesen Fall sollen heute schon die Kosten gesenkt werden. Das Motto der Kanzlerpolitik ist eigentlich einfach. Jeder kann es schnell begreifen. Es lautet - nicht nur in diesem Fall -: „Man kann immer nur eins - entweder gewinnen oder verlieren.“ Deswegen ist diese Politik so maßlos und so gefährlich.

Was wäre die Alternative?

Michail Gorbatschow ist ein Held des Rückzugs aus einer Niederlagenposition heraus. - Die westliche Politik muß etwas leisten, das es noch nie gegeben hat: eine Politik des Rückzugs aus einer Siegerposition heraus. Ihre Antwort auf das Neue Denken im Osten hieße: Hilfe ohne Invasionsabsichten.

Wenn das Siegen und Kriegeführen in Europa aufhören soll, wird es diese Rückzüge geben müssen. Der erste und dringendste und notwendigste Rückzug ist der militärische. Deswegen ist der jüngste Vorschlag des FDP -Vorstandes im Ansatz richtig. Deswegen muß dieses Parlament sofort erklären - wie es die grünen Anträge fordern -: keine Kurzstreckenraketen, kein Jäger90; sofortige Reduzierung der Wehrdienstzeit; sofortige Reduzierung der Bundeswehr - um mehr als nur einen Flotillenadmiral (!) -; sofortige Reduzierung des Rüstungshaushaltes.

Die Helden des Rückzugs eröffnen den Weg für gewaltfreie Revolutionen und demokratische Veränderungen. Wenn die Sieger die Kunst des Rückzugs nicht erlernen, sondern meinen, die Gunst der Stunde durch Vorrücken und einseitige Vorteilnahme und Demütigung der Unterlegenen ausnützen zu können, steigt die Gefahr, daß die Revolutionen gewalttätig werden.

Die Situation in der DDR ist nicht stabil gewaltfrei. Das hat mit der bundesdeutschen Politik außerordentlich viel zu tun. Das hat mit der unvernünftigen Hast zu tun, in der Hoffnungen geschürt werden, von denen jeder weiß: Sie können sich allenfalls in zehn oder in fünfzehn Jahren erfüllen. Das hat damit zu tun, daß die Menschen über die Gefahren der Situation im unklaren gelassen werden.

An der Stelle will ich ein kurzes Wort zur SPD sagen: Ich begreife ihre Politik seit einiger Zeit nicht mehr. Auch die scheint sehr stark auf kurzfristigen Vorteil bedacht. Auf einen Standortvorteil bei den Wählern hier, auf einen Standortvorteil innerhalb der Opposition in der DDR. Bedenken Sie bitte eines: Bei allen gewaltfreien Revolutionen in Osteuropa hat es ein breites gleichberechtigtes Bündnis aller Oppositionsgruppen gegeben. Ansätze dazu gab es auch in den Diskussionen am runden Tisch und innerhalb der Oppositionsgruppen in der DDR.

Es war nicht gut, daß der Einfluß der westdeutschen Sozialdemokratie sofort auf den Führungsanspruch der SPD innerhalb der Oppositionsgruppen gerichtet war.

Anstatt hier eine ernsthafte Opposition gegen die Kohlsche „neue Ostpolitik“ aufzubauen, haben Sie in der DDR die Bedingungen der Opposition gegen die SED durch diesen Machtkampf innerhalb der Opposition erschwert.

Hier in diesem Parlament drängelt sich jetzt alles in der großen Wiedervereinigungspartei.

Wir als die letzte verbliebene deutschlandpolitische Opposition im Bundestag streben dagegen eine westdeutsche Politik an, die nicht jedes freie Feld zu betreten versucht, die nicht jede Oppositionsgruppe in Zwangsobhut nimmt, die sich nicht vorrangig mit der SED um die alte Parteiklasse prügelt, die der demokratischen Öffentlichkeit eine ernsthafte Alternative bietet: einen verläßlichen Weg zu einer ökologischen Konföderation zweier radikaldemokratischer deutscher Republiken in einem pazifistischen Europa.

(gekürzt)

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