: Löst sich der Warschauer Pakt bald auf?
M.F. Tschwerwow ist Direktor der Führungsstäbe im Generalstab der UdSSR-Streitkräfte ■ I N T E R V I E W
taz: Seit 1987 gilt in der UdSSR die neue Militärdoktrin der „hinreichenden Verteidigung“. Wie weit ist diese bereits in die Praxis umgesetzt?
Tscherwow: Bis zum 1.Januar 1990 haben wir aus Europa 9.320 Panzer abgezogen, 5.050 Artilleriegeschosse, 835 Kampfflugzeuge und 40 Kriegsschiffe, darunter zwölf U-Boote. Mehr als 2.000 der abgezogenen Panzer wurden zerstört. Unsere Armee wurde um 265.000 Mann reduziert, weitere 235.000 werden bis Ende 1991 ins Zivilleben geschickt. Die restlichen Streitkräfte werden derzeit defensiv ausgerichtet. Bis zu 40 Prozent der Panzer bei den auf den Territorien unserer Verbündeten verbleibenden Truppen werden abgezogen.
Die CSSR fordert - über die unilateralen Maßnahmen hinaus und unabhängig von etwaigen Ergebnissen bei den Wiener VKSE -Verhandlungen - den Abzug aller 85.000 Soldaten der Roten Armee bis Ende dieses Jahres. Aus Polen und Ungarn gibt es entsprechende Forderungen; in der DDR wird das Verlangen zumindest nach einer 50prozentigen Reduzierung der 380.000 sowjetischen Streitkräfte laut. Werden bald überhaupt keine Truppen der UdSSR mehr auf den Territorien der bisherigen Verbündeten stehen?
Es ist das Recht dieser souveränen Staaten, derartige Forderungen zu stellen, über die wir derzeit mit ihnen verhandeln. Bleiben sie bei ihrer Haltung, ist ein Rückzug sämtlicher sowjetischer Truppen auf das Territorium der Sowjetunion nicht auszuschließen. Aber ich hoffe, daß wir eine unseren gemeinsamen Sicherheitsinteressen entsprechende Lösung finden.
Gibt es diese gemeinsamen Sicherheitsinteressen überhaupt noch? Ungarn und die CSSR haben beim Wiener Doktrinenseminar bereits ihren Wunsch deutlich gemacht, Sicherheitsinteressen künftig entlang ihrer nationalen Grenzen zu definieren. Die bislang von den KPs der sieben Mitgliedsstaaten beschickte zentrale militärische Kommandostruktur der WVO gibt es de facto nicht mehr, da diese Parteien nicht mehr die führende Rolle in ihren Ländern spielen. Schließen Sie aus, daß es in drei Jahren die WVO als militärisches Bündnis mit gemeinsamer Verteidigungsdoktrin und Kommandostruktur nicht mehr gibt?
Eine solche Entwicklung ist nicht ausgeschlossen. Alles ist derzeit offen. Aber ich halte sie nicht für wünschenswert, zumal die Nato bisher unserem Beispiel einseitiger Abrüstungsmaßnahmen und Umstrukturierung hin zur ausschließlichen Defensivfähigkeit nicht gefolgt ist. Hinsichtlich der nicht mehr existenten WVO-Kommandostruktur haben Sie recht. Mit unseren Verbündeten diskutieren wir derzeit die Reform dieser Struktur entsprechend den veränderten politischen Bedingungen. Das Interview führte Andreas Zumach im Rahmen des KSZE-Seminars in Wien
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen