piwik no script img

Wer zu spät kommt...

■ Zum Schießbefehl im Kaukasus

Wäre ich Pazifistin, hätte ich vielleicht Zweifel - aber als Gegnerin jeglichen sozialen Chauvinismus bin ich sicher: die Schießerlaubnis für die Soldaten des Innenministeriums und der Roten Armee kommt gerade noch zur rechten Zeit. Laut 'Prawda‘ hat am 17. Januar eine unbewaffnete Patrouille der Streitkräfte des Innenministeriums in Baku einige wenige Familien gegen eine 5.000köpfige Menge verteidigen müssen. Wenn in einem Staat ganze Panzerzüge durch Freischärler konfisziert werden, dann begibt sich die Staatsmacht, die dagegen nicht vorgeht, an die Grenze der Lächerlichkeit. Und nicht nur das.

Die Streitkräfte des Innenministeriums haben in dem Konflikt um Berg-Karabach in den letzten Jahren eine zivile Zückhaltung an den Tag gelegt, die angesichts der grauenhaften Tradition von Sondertruppen in der UdSSR schon bemerkenswert ist. Nun wird ihnen dies vorgeworfen - und zwar von armenischer Seite: „Wenn die Truppen nicht in der Lage sind, die Sicherheit unserer Bürger zu verteidigen, dann mögen sie uns wenigstens nicht daran hindern, uns selbst zu schützen.“ Die Lage zwischen Skylla und Charybdis, nicht nur der Staatsorgane, sondern aller gewöhnlichen Bürger, ist in 70 Jahren Sowjetmacht nun wirklich offensichtlich geworden: Wer im Sinne des einen handelt, scheitert am Widerspruch des anderen. Psychologisch ist es der Zustand der Schizophrenie - kennzeichnend für die Einwohner des Sowjetstaates, die immer zwei und mehr Herren gleichzeitig dienen mußten.

Daß im Windschatten dieser aktuellen Operationen gestrige und dunkle Kräfte ihr Süppchen brauen, daß sich die Militärherrschaft im Kaukasus nicht nur gegen Inquisitions -Nationalisten, sondern auch gegen demokratische Kräfte wenden kann - dies ist ohne Zweifel ein Resultat der langjährigen Verzögerung der Konflikte zwischen den Nationalitäten. Daß seit 10 Jahren der Trend zur Arbeitslosigkeit im Südkaukasus vernachlässigt wurde, daß Berg-Karabach nicht schon längst einer Sonderverwaltung unterstellt wurde - die Gegner der Perestroika haben das lange Schwelen der Lunte gern gesehen und gefördert. Staatspräsident Gorbatschow hat sie durch sein Abwarten in dieser Nationalitätenfrage bestätigt. Seine Warnung an Erich Honecker hat er wohl aus bitterer eigener Erfahrung geschöpft: „Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte.“

Barbara Kerneck

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen