: Die Wochenzeitung für das neue Deutschland
In einer Woche wird in Ostberlin 'Die Andere‘ zum ersten Mal erscheinen / Herausgeber ist das Neue Forum, gemacht wird sie von professionellen Journalisten und gedruckt beim 'Neuen Deutschland‘ ■ Von Vera Gaserow
Ost-Berlin (taz) - Vielleicht war es purer Zufall des Immobilienmarktes, vielleicht aber auch ein beziehungsreicher Wink des historischen Berliner Zeitungsviertels. Die geographischen Gegebenheiten jedenfalls lassen keinen Zweifel: Knickt man den Berliner Stadtplan an der „Stadtmitte“ in Ost-West Richtung zusammen, dann liegen zwischen Friedrichstraße und Charlottenstraße zwei freistehende, verschnörkelte Altbauten deckungsgleich übereinander. In dem einen Haus - in Klammern West residiert die tageszeitung in dem anderen - ostwärts der Mauer - arbeitet seit Montag 'Die Andere Zeitung‘ (mit Kürzel 'daz‘ die sächsische Variante von taz). 'Die Andere‘, wie ihre MacherInnen sie lieber nennen, ist eine DDR -Premiere. Sie wird die erste parteiunabhängige überregionale Wochenzeitung der DDR und das erste landesweite Medium des Neuen Forums. In 100.000 Auflage soll die 16 Seiten dicke 'Andere‘ am 26.Januar herauskommen und dann jeweils freitags an den Kiosken quer durch die Republik zum Preis von einer Mark zu haben sein.
Mittwoch nachmittag Redaktionssitzung im Haus Französische Straße 47, wo sich die MacherInnen der 'Anderen‘ unter Androhung einer Hausbesetzung eine Etage erstritten haben. Zwölf Leute sitzen um einen wackeligen Tisch. Die Kernredaktion ist - zehn Tage vor Erscheinen des ersten Heftes - schon bei der Planung des dritten. Geplante Themen werden nur kurz angetippt, wichtige Termine mit routinierter Schnelligkeit vergeben. Zu inhaltlichen Diskussionen hat man heute keine Zeit und hat sie wohl auch in der Vergangenheit kaum gehabt.
Denn Mitte Dezember trafen sich nach einem Aufruf des Neuen Forum rund 25 Journalisten und Interessierte das erste Mal zur geplanten Zeitungsgründung. Das Neue Forum beantragte eine Lizenz, und in der Rekordvorbereitungszeit von einem Monat soll nun das Blatt auf den Tisch, von dem man bis vor kurzem noch nicht einmal den Namen wußte und dessen heftig umstrittenes Gesicht, ein modernes, professionell gemachtes Layout, an diesem Mittwoch nachmitag gerade mal eine Stunde alt ist. Was das Zeitungsmachen angeht, kann sich 'Die Andere‘ auf professionelle Erfahrung stützen, denn von den sechs festangestellten Redaktionsmitgliedern kommen fast alle aus dem Journalismus. Von den technischen und organisatorischen Voraussetzungen her steht das Wochenblatt jedoch „am Punkt Null“, und das wird sich auch auf die Inhalte niederschlagen.
Irgendwann, wenn von den errechneten 30.000 Mark Reinerlös jeder Nummer genug angespart ist und vielleicht auch noch Spendengelder fließen, wird man sich vielleicht eigene technische Gerätschaften leisten können. Aber bis auf weiteres muß 'Die Andere‘ im Fremdauftrag hergestellt werden. Gesetzt wird beim SED-eigenen Berliner Verlag und den Druck - DDR-Kuriosum at its best - besorgt das 'Neue Deutschland.‘ Das jedoch bedeutet eine Woche Vorlaufzeit bei jeder Ausgabe. Den Streit um das Wahlbündnis, den Sturm auf die Berliner Stasi-Zentrale, das neue joint-venture Gesetz all diese aktuellen Themen könnte 'Die Andere‘ bestenfalls für die zweite Nummer planen, und da sind sie schon längst wieder von anderen Ereignissen überholt.
„Eine politischen Wochenzeitung mit aktuellem Ereignis- und Aufdeckungsjournalismus will 'Die Andere‘ machen und parallel dazu aufhellende theoretische Analysen bieten“, formuliert ihr stellvertretender Chefredakteur Dieter Krause, aber gerade mit der Aktualität wird sich die Zeitung zwangsläufig schwertun, und auch die großen Enthüllungsstories schwirren bei der Themenplanung auf der Mittwochs-Redaktionssitzung nicht gerade durch den Raum.
Soll der freie Journalist K. das geplante Thema übernehmen, obwohl er bei einigen als „Wendehals“ gilt und erst kürzlich aus der Partei ausgetreten ist? „Das ist doch kein Kriterium. Entscheidend ist doch, wie er in der Partei war.“ Stimmengewirr, alle debattieren durcheinander, bis Chefredakteur Dietmar Halbhuber ein Machwort spricht. Im Gegensatz nämlich zur großen Nachbarin im Westen hat 'Die Andere‘ eine klare Hierarchie. Für „basisdemokratische Experimente“ wie bei der taz hat „man hier keine Zeit“ und fand wohl auch die Erfahrungen von jenseits der Mauer nicht so animierend. „Es gibt zwar eine Verpflichtung zum Konsens, aber wir sind schnell davon abgekommen, prinzipiell alles zu demokratisch zu diskutieren“, sagt Vize-Chef Dieter Krause kategorisch, „mitreden kann hier nur, wer auch was tut.“ Das Resultat: 'Die Andere‘ hat zwar klare Entscheidungsstrukturen, wie sie die taz noch nicht einmal nach zehn Jahren vorweisen kann, nur unproblematisch und unkompliziert sind diese Strukturen deswegen noch lange nicht.
Formale und tatsächliche Eigentümer der Zeitung sind die fünf Gesellschafter der Verlagsgesellschaft Basisdruck GmbH, die mit ihren persönlichen Ersparnissen auch die gesetzlich vorgeschriebenen 20.000 Mark Gründungskapital eingebracht haben. Die fünf Gesellschafter von Basisdruck, allesamt Mitglieder des Neuen Forums, sind über Klaus Wolfram vom Landessprecherrat des Forums, auch in der Redaktion vertreten. Die fünf Verlagseigentümer sollen zwar bei Personalentscheidungen und inhaltlichen Fragen das Votum der Redaktion einbeziehen. Aber auch bei redaktionellen oder gestalterischen Fragen 'der Anderen‘ haben „die Herren Verleger“, wie sie scherzhaft heißen, das letzte Wort, und das ist bisher auch nicht umstritten.
Unumstritten - aber nicht minder konfliktträchtig - ist noch ein anderer Punkt, der sich vielleicht noch einmal rächen könnte. 'Die Andere‘ nennt sich zwar „unabhängige Wochenzeitung“, ist aber die Zeitung des Neuen Forums und wurde explizit in seinem Auftrag gegründet. „Wir sind kein Zentralorgan des Neuen Forums, wir sind seine positiven politischen Begleiter und wollen Brücken schaffen zu anderen sozialen Bewegungen“, versichert Vize-Chefredakteur Krause zwar. Aber natürlich soll das Neue Forum in jeder Ausgabe in der einen oder anderen Form Raum bekommen und gewürdigt werden. Warum ausgerechnet in der von Parteiorganen geschädigten DDR eine Anbindung an eine Gruppierung? Nun, das Neue Forum habe in der Bevölkerung einen hohen moralischen Nimbus, von dem die Zeitung nur profitieren könne. Und außerdem, meint Krause, „fühlen wir uns dem Forum geistig verbunden“. Schließlich sei es „Vater und Mutter der 'Anderen‘, und da stehen wir in der Pflicht.“
Welche inhaltlichen Implikationen ein solches In-die -Pflicht-Nehmen für eine Zeitung hat, auch darüber hatte man bisher wohl kaum Zeit zu diskutieren. Wie anders wäre sonst zu erklären, daß an diesem Mittwoch nachmittag an einer scheinbaren Formalie urplötzlich der Grundsatzkonflikt ausbricht. Chefredakteur Halbhuber schlägt in Absprache mit den fünf „Herren Verlegern“ die Formulierung für das Impressum vor: „'Die Andere‘, Zeitung für das Neue Forum, herausgegeben im Auftrag des Landessprecherrates von Klaus Wolfram“, soll es heißen. Lautstarker Protest eines Redaktionsmitglieds: „Ich bin nicht das Neue Forum. Außerdem taucht bei dieser Formulierung das Wort 'links‘ keinmal auf, und deswegen bin ich hier!“ „Wir auch“, heben auch andere die Hand und jemand schlägt vor, das Neue Forum gänzlich aus dem Impressum zu streichen. „Aber die tragen die Zeitung doch.“ „Nein wir!“ „Aber die haben die Lizenz.“ Schließlich streitet man sich, ob dieser Punkt nun nur eine Formulierungs- oder eine Grundsatzfrage sei. Doch auch die Klärung dieser Frage, die bei der taz wahrscheinlich etliche Sitzungsstunden beansprucht hätte, ist bei der 'Anderen‘ innerhalb weniger Minuten beendet. Pragmatisch wird der Konflikt einer Kleingruppe zur Lösung übergeben, und spätestens, wenn am kommenden Freitag 'Die Andere‘ auf einer internationalen Pressekonferenz präsentiert wird, weiß man, wie der Streit entschieden wurde.
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