: Dioxinexperten suchten Auswege aus Horrorszenario
Wissenschaftler aus aller Welt berieten in Karlsruhe über die Gefahren des Dioxins / Grundbelastung in der Bundesrepublik besorgniserregend gestiegen / Daß Dioxine auch beim Menschen krebserregend sind, gilt als erwiesen / Hauptverursacher ist die Chlorchemie / Ratlosigkeit über Lösungen / Uneinigkeit über Chemieausstieg ■ Aus Karlsruhe Erwin Single
„Wir brauchen einheitliche Richtwerte; wir können nicht bei jedem neuen Dioxinfund auf die Einzelfallbewertung durch Fachleute warten.“ Diese Losung hatte der baden -württembergische Umweltminister Erwin Vetter zu Beginn des viertätgigen Dioxinsymposiums in Karlsruhe ausgegeben. Doch trotz der dort präsentierten Datenfülle wird sich Vetter ebenso wie sein Bonner Amtskollege Töpfer noch etwas gedulden müssen: Erst im „Laufe des Jahres“ wollen Bundesgesundheitsamt und Umweltbundesamt Vorschläge für neue Richtwerte festlegen, wenn die Ergebnisse des Kongresses „gebündelt und ausgewertet“ sind.
Internationale Wissenschaftler aus Europa und Nordamerika, Spezialisten aus den Stabsstellen zahlreicher Behörden, Vertreter aus Industrie und Umweltgruppen diskutierten in Karlsruhe vier Tage lang einmal mehr über den Giftstoff Dioxin. Mit reichlich wissenschaftlichem Material angereichert konstatierten die anwesenden Experten eine besorgniserregende Situation durch die Belastung der Umwelt mit Dioxinen und Furanen. Zu einem wahren Horrorszenario lassen sich die Einzeldaten zusammenbauen. Die gegenwärtige durchschnittliche Grundbelastung hierzulande sei „mit ein bis zwei Pikogramm anzunehmen“, erklärten BGA und UBA nach Abschluß der Tagung. Die beiden Ämter hatten noch 1985 als duldbare tägliche Aufnahmemenge ein bis zehn Pikogramm pro Kilo Körpergewicht empfohlen. Wenn es nach der Mehrheit der Experten ginge, müßte dieser Wert drastisch reduziert werden, möglichst unter ein Picogramm. Das durchschnittliche Belastungsniveau in Böden liegt bei fünf Nanogramm (Milliardstel Gramm) pro Kilo - Werte, die nicht nur bei großflächig angelegten Untersuchungen in Hamburg und Nordrhein-Westfalen, sondern etwa auch in England festgestellt wurden. Waldböden gelten mit bis zu 80 Nanogramm als besonders hoch belastet; noch deutlich höher sind die ermittelten Bodenbelastungen in der Umgebung von Altlasten wie Chemiewerken, Metallhütten oder Kabelverschwelungsanlagen. Die Hintergrundbelastung der Luft beträgt nach Aussagen verschiedener Wissenschaftler bis zu 0,3 Picogramm pro Kubikmeter, was allein schon eine tägliche Aufnahme über die Lunge von bis zu sechs pg ausmacht.
Als besonders problematisch wurde in Karlsruhe die Konzentration von Dioxinen in der Muttermilch angesehen. Spitzenwerte von bis zu 70 Nanogramm pro Kilo Milchfett wurden bei Untersuchungen des Stuttgarter Umweltministeriums bei Frauen in den hochbelasteten Gebieten in Maulach und Rastatt ermittelt. Aber auch bei anderen Messungen wurden die vom BGA für die tägliche Dioxinaufnahme als tolerierbar angesehenen Werte bei weitem überschritten.
Einig waren sich die Wissenschaftler darüber, daß Dioxin krebserregende Eigenschaften auch bei Menschen besitzt. Diese zunächst aus Tierversuchen abgeleitete Auffassung hatten viele Experten lange Zeit nicht geteilt. Die Kanzerogenität wird inzwischen durch Studien nach dem Dioxinunfall von 1953 im Ludwigshafener BASF-Werk und bei Boehringer in Hamburg belegt. Dort wurde eine erhöhte Krebshäufigkeit bei Mitarbeitern festgestellt, die mit Dioxin in Berührung gekommen waren.
In der öffentlichen Expertenanhörung durch BGA und UBA konstatierte das UBA einen „Handlungsbedarf“ - allein schon wegen der vielen Altlasten und auch ohne exakte toxikologische Bewertung. „Ganzheitliche Minimierungsstrategien“ seien gefordert. Doch wie diese zu erzielen sind, darüber wurde das Plenum nicht einig. Als Hauptverursacher für einen Dioxinneueintrag wurden zwar Verbrennungsprozesse und Chlorchemie eindeutig ausgemacht. Bei der Frage nach den Konsequenzen scheiden sich jedoch die Geister. Ein Stopp der Müllverbrennung, wie sie auf Transparenten von einigen Mitgliedern der Rastatter Bürgerinitiative gegen die Dioxinschleuder Fahlbusch demonstrativ gefordert wurde oder der Ausstieg aus der Chlorchemie, für den ein BUND-Vertreter und der Toxikologe Ottmar Wassermann eintraten, blieben undiskutiert im Raum stehen. Die meisten Experten setzen da schon eher auf technische Minimierungsmaßnahmen wie dem vom Minister Töpfer auf der Tagung vorgeschlagenen neuen Emissionsgrenzwert bei der Müllverbrennung von 0,1 Nanogramm pro Kubikmeter Abluft.
Weitgehende Ratlosigkeit herrscht im Zusammenhang mit anderen Belastungsquellen wie der Papierverarbeitung, der Metallreinigung, dem Autoverkehr, dem Hausbrand oder der Mineralölverarbeitung. Weiterer Forschungsbedarf wurde ebenso eingeklagt wie sie Suche nach technischen Lösungsansätzen. Weitere Dioxinquellen werden erst noch zu identifizieren sein: Verdachtsmomente gegen Teppichböden oder Kosmetik klangen an. „Vielleicht kann uns ja die Industrie helfen, indem sie verrät, wo sie das Dioxin überall versteckt hat“, sagte Professor Wassermann.
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