: Den steinigen Weg weitergehen
■ Predigt der 1. Rostocker Donnerstagsandacht 1990, der eine Riesendemo folgte
Vor reichlich drei Monaten haben wir uns auf den Weg gemacht. Auf den Weg hin zu einer anderen, neuen Gesellschaft in unserem Land. Anfangs waren wir bedroht, und dies in mehrfacher Hinsicht: Draußen um die Kirchen warteten die Stasi-Büttel und die Bereitschaftspolizisten auf Anlässe, um dazwischenschlagen zu können. In den Kirchen saßen die mehr oder weniger auffälligen Spitzel, die jedes Wort zu registrieren hatten. Und im Hintergund wirkten die mißtrauischen Machthaber der SED. Nun stehn wir am Anfang eines neuen Jahres, in dem sich vieles entscheiden muß. Wie sieht es mit uns und um uns herum aus?
Wir merken, etliche sind müde geworden und ermattet. Viele haben Jahre und Jahrzehnte vor den Machthabern gebuckelt. Viele sind vor ihren Chefs und Vorgesetzten gekrochen. Vielen ist das Rückgrat gebrochen worden. Da hat nun so mancher Mühe mit dem aufrechten Gang. Viel bequemer scheint es da, die alte Haltung wieder einzunehmen, wieder zu buckeln und zu kriechen, wieder abzuwarten, bis Anweisungen von oben kommen.
Da gibt es die, die sich in die erste Reihe der Aufrechten gestellt haben. Sie haben die Hauptlasten auf ihre Schultern genommen. Nun drohen sie unter dem Gewicht zusammenzubrechen. Ihnen ist ein Übermaß an Verantwortung aufgebürdet, ein Übermaß auch an mühseliger Kleinarbeit.
Da gibt es die, die ihre ganze Kraft darauf verbrauchen, um Abstecher zu machen von unserem Weg. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem Reisen. Und die Versuchung ist nach wie vor groß, den Weg zu wechseln und einen anderen einzuschlagen. Einer, der vermeintlich glatter ist.
Und da gibt es auch die, die sich wenig zutrauen. Sie meinen, sie schaffen es nicht, Lasten zu übernehmen. Ihnen fehlt - so meinen sie - das Schuhwerk für einen festen Standpunkt, die wetterfeste Kleidung für den scharfen Gegenwind.(...)
Und plötzlich entdecken da die Müden und Erschöpften ein Fahrzeug am Weg mit der Aufschrift „SED-PDS“. Es ist der Wagen, der erst kürzlich gegen den Baum gefahren ist. Doch nun ist er so leidlich wieder flott gemacht. Und die Besitzer stehen daneben mit einer einladenden Geste: Kommt doch, steigt ein! Ihr könnt es doch viel bequemer haben. Denkt auch daran: es ist gefährlich, allein weiterzugehen. Denn hier gibt es Räuber und Wegelagerer - die Neonazis sie wollen über euch herfallen. Da ist es doch besser, ihr kommt mit uns. Freilich, hinter dem Steuer nehmen wir Platz. Die Richtung bestimmen wir auch weiterhin. Was meint ihr? Es könnte wieder gegen den Baum gehen? Aber nicht doch, wir haben die Lenkung überholt und auch den Fahrer ausgewechselt.
Doch da gibt es auch die Kehrseite dieser schönen Worte. Denn das Fahrzeug fährt mit leerem Tank. Es kommt nur gut voran, wenn es abwärts geht. Wenn es aufwärts gehen soll, müssen die Insassen aussteigen und schieben, während die Führung bequem hinter dem Steuer sitzen bleiben möchte. So sieht es aus auf dem Weg hin zu einer neuen, anderen Gesellschaft. Müde und ermattete, zögernde und kraftlose Menschen - verführerisch umworben. In der Bibel ist von einem Volk die Rede, das in ähnlicher Lage war. Es ist lange her, über 2500 Jahre. Auch dieses Volk Israel war müde und matt geworden.(...) Doch es gibt Leute, die dieses müde, erschöpfte, unvermögende Volk aufrichten möchten. Denn sie vertrauen auf eine Kraft, die sie nicht selbst entwickeln könne. Sie vertrauen auf ihren Gott. (...) Denn dieser Gott steht auf der Seite der Machtlosen, der Bedrückten, der Unvermögenden.(...)Nicht jeder von uns, der heute hier ist, glaubt an diesen Gott. Doch ich denke, jeder von uns hat diese beeindruckende Erfahrung gemacht: Wir hatten die Kraft, mit friedlichen und gewaltlosen Mitteln das Machtgefüge im Innersten zu erschüttern. Aus dieser Erfahrung heraus kann Vertrauen wachsen. Vertrauen darauf, daß wir auf unserem Weg auch weiter Kraft erhalten. Wir wollen uns gegenseitig Mut machen, weiterzugehen.(...)
Die Rostocker Donnerstagsdemos sind aus den Andachten, seit Oktober simultan in 6 Rostocker Kirchen gelesen, entstanden. Die Predigt vom 11.1. wurde erarbeitet von Eva -Maria Pfeifer, Eckerhard Pfeifer, Gesine Wiechert, Ines Dongowski, Cornelia Kühn, Tom Ogilvie, Pastor Lohse.
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