Totalverweigerer Scherer im Ostberliner Exil

Senat soll Anfrage an Alliierte und die Antwort veröffentlichen / „Keine Ausdehnung der Wehrpflicht auf West-Berlin“  ■ I N T E R V I E W

Gestern nachmittag fand vor dem Brandenburger Tor (Ostseite) ein Solidaritätskonzert für den seit Anfang Januar untergetauchten Berliner Totalverweigerer Gerhard Scherer statt. Scherer soll - wie bereits im Fall eines anderen Totalverweigerers im April 89 geschehen - nach dem Willen des rot-grünen Senats per Amtshilfe in den westdeutschen Knast ausgeflogen werden. Kollegen des Ex-Musikschullehrers Scherer spielten, unterstützt von DDR-Musikern, Samba, Jazz und Klassik. Lautstark forderten Wehrdienst-Totalverweigerer aus Ost und West, daß Scherer nicht ausgeliefert wird. Außerdem protestierten sie gegen das für die DDR geplante Zivildienstgesetz und machten sich für eine totale Abschaffung der Wehrpflicht in beiden deutschen Staaten stark.

taz: Hältst du dich jetzt dauerhaft im Ostberliner Exil auf?

Scherer:Ich bin jetzt schon fast eine Woche hier, werde aber irgendwann auch drüben wieder auftauchen.

Du sagst ja, daß der Senat trotz des Okays der Alliierten weiter die Verantwortung in deiner Sache hat. Wieso?

Die bleibt weiter beim Senat, weil die Anfrage bei den Alliierten meiner Meinung nach so formuliert war, daß die Antwort nicht anders lauten konnte. Außerdem liegt uns ein Schreiben der Allierten vor - übrigens das erste Schreiben der Schutzmächte an Totalverweigerer -, in dem steht: Der Fall liegt in der Hand der zuständigen deutschen Behörden, die die Alliierte Kommandatura konsultiert haben. Die politische Entscheidung liegt also beim Senat.

Hat der Senat euch denn die Anfrage und die Antwort endlich im Wortlaut zugeleitet?

Meines Wissens bisher nicht. Ich halte das für einen Skandal. Es kann nicht angehen, daß mein Fall wie eine Geheimsache behandelt wird.

Was sind jetzt eure Forderungen an den Senat?

Erstens wollen wir Einsicht in die bürokratischen Vorgänge, die da zwischen Senat und Allierten hin- und hergingen. Zweitens soll der Senat die Versuche unterlassen, den entmilitarisierten Status der Stadt auszuhöhlen. Im Gegenteil: er sollte versuchen diesen entmilitarisierten Status ausbauen. Mometan sieht es nämlich so aus, daß die SPD der Rechtseinheit mit dem Bund eine derartige Priorität einräumt, daß die bundesdeutsche Wehrpflicht schleichend auf diese Stadt ausgedehnt wird. Das Ganze steht ja auch im Zusammenhang mit der angestrebten Teilnahme Berlins an der Bundetagswahl im nächsten Herbst. Diepgen hat bereits in der letzten Woche die Einführung der Wehrpflicht für Berlin gefordert.

Wie sieht denn da euer Lösungsvorschlag aus?

Wir sind am Prüfen, wie der entmilitarisierte Status gesichert werden kann. Es gibt noch keinen zündenden Vorschlag. Die AL zum Beispiel plant eine Änderung der Berliner Verfassung. Aber da sehen wir schwarz, denn Bundesrecht bricht Landesrecht - da hätte eine Berliner Verfassungsänderung nicht viel praktischen Nutzen. Trotzdem muß es zu einer berlinspezifischen Lösung kommen, ein blindes Übernehmen von Bundesrecht wäre eine Katastrophe.

Interview: Hans-Hermann Kotte