: MONUMENTE FÜR LILIPUT
■ Kleinplastiken aus der Sammlung der Nationalgalerie
Eine auf ihrer Spitze balancierende orangerote Riesennase, die beim nächsten Luftholen sicher umkippen wird: So sieht des ungarischen Bildhauers Zoltan Kemenys 1949 entstandene Gipsplastik „Oranger Kopf“ von der Seite aus. Brigit Blass -Simmen, die aus den Beständen der Nationalgalerie die Kleinplastiken für diese Ausstellung auswählte, ordnete das erglühende Nasenmonster unter dem Stichwort „Grotesken“ ein. „Groteske I“ benannte auch Oskar Schlemmer 1923 eine auf großem Plattfuß stehende Holzfigur, deren Kurven den ausbauchenden Formen eines Notenschlüssels folgen. Sie hat Musikalität im Bauch.
Die Idee von der Pfiffigkeit der Kleinen, die sich ganz besondere Tricks ausdenken müssen, um ihre Ziele zu erreichen, wiederholt sich in den Eigenschaften, die kleinen Skulpturen zugesprochen werden. Mit ihren grotesken und ironischen Formulierungen können sie sich auf eine alte Tradition berufen: Als kunsthistorische Vorläufer gelten jene weltlichen Schnitzereien und Steinmetzarbeiten, die in der Ornamentik mittelalterlicher Kirchen an Kapitellen, in verborgenen Winkeln oder der Rückseite des Chorgestühls auftauchen und mit ihren Fratzen und verzerrten Leibern der Heiligkeit des Ortes zu spotten scheinen. Im Kleinen durfte die Phantasie sich austoben und Ungeheuer gebären. In den Kleinplastiken dieses Jahrhunderts, den öffentlichen Aufträgen und sinnstiftenden Aufgaben der Kunst entzogen, privatisieren die Künstler. In deren intimen Maßen duzen sie sozusagen ihren Kunstkonsumenten und erlauben sich kleine Freiheiten.
Der Nippes des neunzehnten Jahrhunderts hat das Genre in Verruf gebracht und noch immer läßt sich ihm die Tendenz, zum erotischen Stimulans im Schlafzimmer des leidenschaftlichen Kunstkenners zu werden, nicht völlig absprechen. Brigit Blass-Simmen erfand hierfür die schöne sprachliche Kategorie „Erotik - Akt - Monumentalplastik für den Privatgebrauch“: Aufblasbares, Weiches, Biegsames und ähnlichen Schweinkram darf man allerdings nicht erwarten. Doch dem durch abstrakte Formkraft von schnell erkennbaren Anzüglichkeiten gereinigten Werk waren die Ankäufer der Nationalgalerie durchaus gewogen. Rudolf Belling zerlegte 1920 ein ineinander verkralltes Paar in holzgeschnitzte kubische Formen, spannte sie in zwei Kreisbögen ein, ließ sie vergolden und benannte die Skulptur, die sich nach außen harmonisch gerundet zeigt, während in ihrem Innern aggressiv spitze Teile aufeinanderzielen, mit dem universell vielversprechenden Titel „Erotik“. Der Spanier Miguel Berrocal erlaubte sich in den sechziger Jahren den Spaß, „Romeo und Julia“ als ein aus 16 Einzelteilen zu fummelndes plastisches Puzzel zu gestalten, das zusammengesteckt einem Käfer oder einem Oldtimer gleicht. Da kommt der Techniker auf seine Kosten, dem das Hantieren unter Motorhauben oder Miniröcken gleichermaßen Schauder über den Rücken jagt.
Prall und griffig erweist sich Hans Arps kleine Bronze „Mensch, von einer Blume betrachtet„; ohne eindeutige Standfläche verlangt diese organische Form geradezu danach, zwischen den Händen gedreht und gewendet zu werden. Auch Schmidt-Rottluffs rundgeschliffene Steine, in denen kleine hineingeschnittene Figuren geborgen sind, eignen sich, um sie als geheime Fetische in der Hosentasche zu tragen. Schnödes Vitrinenglas verhindert diese haptische Erprobung der Handschmeichler.
Angesichts der raumverschlingenden Dimensionen konzeptueller Installationen und wilder Gemälde steckt in der Kleinheit schon wieder eine Tugend. Diese kleinen Formate lassen Alltag neben sich bestehen. Zugleich verlangt die kleine Form Präzision, Entschiedenheit und Konzentration.
Um die Ausschöpfung minimaler Formen und Mittel geht es in der jüngsten Kleinplastik Carl Andres‘, der „Elementserie“ aus rechteckigen Bleiquadern, die wie ein Baukasten für Kinder zu jeweils anderen Türmen, Treppen und Stadtlandschaften aufgebaut werden können: eine spielerische Erkundung der Möglichkeiten des Raumes.
Die meisten der kleinen Skulpturen, sonst fast immer ins Dunkel des Depots verbannt, erwarb die Nationalgalerie mit Mitteln aus einer Stiftung von Renee Sintenis; die Bildhauerin vermachte der Nationalgalerie neben ihrem künstlerischen Nachlaß Geld, das für die Sammlung der Kleinplastiken verwendet wird. Die Künstlerin, von deren Händen erstaunlicherweise nichts in dieser Ausstellung zu sehen ist, wird so als Förderin anderer Künstler verewigt. Für die Ausstellung wurde nur eine einzige Künstlerin ausgewählt: Olga Jevric, Musikerin und Bildhauerin aus Jugoslawien, manschte mit Eisenstäben im Zement und baute aus Schollen und Klumpen rudimentär an architekturale Formen erinnernde Gebilde. Der Spannungsbogen, unter den Blass -Simmen die Objekte aus fast einem Jahrhundert im Bemühen um deren erkennbare Gattungsspezifik geordnet hat, reicht denn auch vom archaischen Kultobjekt bis zu Architekturminiaturen.
Katrin Bettina Müller
Die Kleinplastiken aus der Sammlung der Nationalgalerie werden im Kunstforum der Grundkreditbank ausgestellt. Bis zum 18. Februar. Der kleine Katalog kostet 15 DM.
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