: „Es riecht nach östlichem Elend“
Der Westberliner Schriftsteller Peter Schneider hält die deutsche Vereinigung für unvermeidbar und Marx‘ Kritik am Kapitalismus für wichtiger denn je ■ I N T E R V I E W
taz: Worin bestehen die neuen Aufgaben für die Intellektuellen deines Landes?
Peter Schneider: Wir haben ein politisches Erdbeben erlebt, und dem wird ein geistiges folgen müssen, das vielleicht in Deutschland länger dauern wird als woanders. In der DDR wird erneut eine Art „Stunde Null“ erlebt. Es fehlt die Ehrlichkeit, einen ganz einfachen Satz auszusprechen: „Ich war dabei, ich habe daran geglaubt, und vielleicht werde ich die nächsten Jahre nichts sagen können.“ Dieser Satz fehlt heute, genauso wie er 1945 gefehlt hat. Auch unter den Intellektuellen sind keine Anzeichen der Verwirrung zu bemerken. Man muß die eigenen Fehler erkennen und sie ernst nehmen. Man kann nicht einfach darwinistisch dem Gang der Ereignisse folgen. Man muß mit der Geschichte abrechnen. Das sind die neuen Aufgaben der Intellektuellen, die bislang nur damit beschäftigt sind, ihre eigenen Widersprüche zu verdecken. Der Stalinismus hat weltweit eine katastrophale Niederlage erlitten, und man muß den Mut haben, das zuzugeben. Darin müßten sich die Geisteswissenschaften der selben Untersuchungsmethoden bedienen wie die Naturwissenschaften. Marx‘ Kritik am Kapitalismus hat nichts an Gültigkeit verloren. Diese Kritik ist heute notwendiger denn je, wenn wir eine Alternative zum kapitalistischen System erarbeiten wollen. Jedoch müssen wir von der Tatsache ausgehen, daß viele Lösungen, an die wir geglaubt haben, von der Geschichte widerlegt worden sind.
Was hältst du vom demokratischen Sozialismus?
Ich habe den Eindruck, daß niemand genau weiß, was das vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus bedeutet. Die westlichen Sozialdemokraten streben vielleicht eine stärkere soziale Kontrolle an, aber niemand träumt davon, die Produktionsmittel zu kollektivieren. In der DDR ist dieses Konzept notwendigerweise anders, denn dort gibt es noch sozialistische Produktionsverhältnisse. Ich glaube, diese Diskussion wird zu oberflächlich geführt, und bevor ich mich darüber äußere, möchte ich besser verstehen, was unter ökonomischen Gesichtpunkten, unter demokratischem Sozialismus verstanden wird.
Glaubst du nicht, daß die Umwälzungen im Osten auch hier Anstoß zu einem Neubeginn geben könnten?
Es muß so sein. In diesen 40 Jahren sind in Deutschland nicht nur zwei Staaten entstanden, von denen einer nun zusammengebrochen ist, sondern zwei unterschiedliche Kulturen und Lebensweisen. Wenn die Begeisterung abgeflaut ist, werden die Unterschiede spürbar werden, viele werden es schwer haben, sich umzugewöhnen. Ich habe schon jemanden sagen hören: „Wozu braucht man denn so viele unterschiedliche Salatsorten? Das ist unglaublich, das ist ein Frevel!“ Es wird interessant sein, zu beobachten, wie sich die beiden Kulturen mischen und wie sich das auf die Beziehungen mit den anderen, mit den Nichtdeutschen, auswirken wird. Die anderen Kulturen sind für uns ein großer Gewinn, und das Schlimmste, was passieren kann, ist die Germanisierung von Berlin und der BRD, das ist meine einzige wirkliche Angst.
Du hast in einem Essay die Teilung Deutschlands als gesellschaftliches Experiment bezeichnet. Was sind die ersten Resultate?
Ich habe über das folgende Paradox nachgedacht. Die Berliner Mauer ist aus einem und demselben Grund gebaut und wieder zerstört worden: um die Leute drinnen zu behalten! Einer der größten Fehler bestand darin, dafür die Mauer zu benutzen, die ja ein Symbol von biblischer Stärke ist. Bei der ersten Gelegenheit haben die Leute sich ihr Recht auf Bewegungsfreiheit wiedergeholt und dabei ihre Arbeit, ihre Wohnung und sogar einen gewissen Wohlstand hinter sich gelassen. Das ist bislang das einzig sichere Resultat. Das Scheitern des realen Sozialismus berechtigt jedoch nicht, den endgültigen Sieg des Kapitalismus zu erklären. Das wäre zudem langweilig, ungenügend und unproduktiv.
Was hat die Ideologie für eine Zukunft?
Ich kann nur für mich sprechen. Im Moment brauche ich keine Ideologie. Wer jetzt weiterhin von Sozialismus spricht, ohne ihn neu zu definieren, spricht von einer Religion. Jetzt ist der Zeitpunkt, neu zu definieren, was wir in ökonomischer Hinsicht vorhaben, herauszufinden, was die Geschichte zurückgewiesen hat, und es zu überwinden. Begnügen wir uns doch damit, unser Recht auf Kritik auszuüben, ohne sofort neue Lösungen vorzustellen. Die Lösungen werden gefunden, indem man kritisch bleibt und sie ausprobiert.
Kommt es dir nicht gefährlich vor, sich ohne ideologische Bezugspunkte zu bewegen?
Das ist es sicherlich, vor allem bei denen, die im Osten ernsthaft an dieses Modell geglaubt haben. Aber die Geschichte hat uns dieses Erdbeben nicht erspart. Wichtig ist, voreilige Lösungen zu vermeiden.
Am Tag des Falls der Mauer hat sich die ganze Welt gefreut. Die Öffnung des Brandenburger Tors machte jedoch bereits den Eindruck einer innerdeutschen Angelegenheit, der die Angst vor der deutschen Vereinigung weckte. Ist es berechtigt, heute Angst vor den Deutschen zu haben?
Wer diese Angst nicht begreift, begreift nichts von der Geschichte. Gleichzeitig konnte die Mauer jedoch keine definitive Lösung sein. Ich glaube, die Vereinigung ist unvermeidbar. In zehn Jahren wird es keinen Sinn mehr machen, zwischen Ost und West zu unterscheiden. In politischer Hinsicht wird es keine zwei Deutschlands mehr geben. Und das sage ich, auch wenn ich dabei schlechte Gefühle habe. Man darf jedoch nicht den Fehler machen, der Rechten diesen Freiraum zu überlassen, und man muß unterscheiden können. Im Westen gibt es keinen Grund dafür, die Vereinigung zu wollen. Das von Kohl ist kitschiger Nationalismus. Im Osten hingegen ist es anders. Es gibt wichtige wirtschaftliche Gründe, die Leute haben keine Lust, sich für ein drittes Experiment herzugeben, sie wollen ihren Anteil am Wohlstand, und das sofort.
Du bist der einzige Schriftsteller deines Landes gewesen, der der Berliner Mauer literarische Würden zukommen ließ und dadurch das Thema dem Monopol der konservativen Politiker entzog. Wie fühlst du dich jetzt, wo alle über die Mauer schreiben?
Als ich die ersten Bilder aus Berlin sah, sind mir die Tränen gekommen, weil das Mauerspringen, ein Sport, den ich als Metapher entdeckt hatte, ein Massensport geworden war. Und dann habe ich besser begriffen, was mich immer fasziniert hatte: die Energie, mit der die Mauerspringer sich von ihrer Vergangenheit befreien.
Und was wird nun aus Berlin? Meinst du nicht, daß jetzt, wo die Mauer weg ist, die Stadt einen Großteil ihres Reizes verlieren wird?
Ja, jetzt verschwindet die Mauer unter den Hammerschlägen der Leute, und Berlin ist bereits anders. Es ist, als ob es auf einen Schlag 500 Kilometer ostwärts gerutscht wäre (...) Ein polnischer Freund hat mir gesagt, daß es schon typisch nach östlichem Elend riecht. Es wird eine Mischung aller Rassen wie in den zwanziger Jahren geben, und das wird gut für die Deutschen sein.
Übersetzt aus 'L'Unita‘ vom 19.1.1990
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