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Keine Kursänderung nach SED-Krisensitzung

■ Trotz dramatischem Mitgliederverlust und wachsender innerparteilicher Kritik lehnt der Parteivorstand eine Selbstauflösung weiter ab / Egon Krenz, Kurt Hager und weitere Ex-Führungsgenossen aus der Partei ausgeschlossen / Appell an die Opposition zur Regierungsbeteiligung

Berlin (ap/dpa/taz) - Der Parteivorstand der SED-PDS hat in einer 16stündigen Krisensitzung am Samstag erneut die formelle Selbstauflösung der früheren Staatspartei abgelehnt. Daß der Auflösungsprozeß faktisch in vollem Gange ist, geht aber aus dem Bericht des Parteivorsitzenden Gregor Gysi hervor: Die Mitgliederzahl der SED-PDS hat sich seit der Wende von 2,3 auf 1,2 Millionen reduziert. Dem dramatischen Trend zur Bedeutungslosigkeit setzte der Vorstand auch am Wochenende wieder nur die untaugliche Mischung aus innerparteilichen Reformbeschwörungen und symbolischen Entscheidungen entgegen: Der ehemalige Partei und Staatschef Egon Krenz wurde zusammen mit seinen ehemaligen Genossen aus dem Nach-Honecker-Politbüro aus der Partei ausgeschlossen; die zwangsvereinigten Hände von Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl sollen aus dem Emblem der Einheitspartei verschwinden. Der für Mitte März geplante Parteitag soll möglicherweise vorgezogen werden. Dann soll auch die entgültige Trennung vom Parteinamen SED und die formelle Umbenennung in „Partei des Demokratischen Sozialismus“, PDS vollzogen werden.

Ebenfalls auf der Krisensitzung lud die SED die oppositionellen Parteien und Gruppierungen ein, Ministerposten in der Regierung Modrow zu übernehmen. Hans Modrow selbst appellierte in den letzten Wochen vergeblich an die Opposition, Verantwortung in seiner Regierung zu übernehmen, um so die Situation des Landes zu stabiliseren und die Durchführung freier Wahlen am 6. Mai zu gewährleisten. SPD-Geschäftsführer Ibrahim Böhme hatte Modrow aber bereits am letzten Mittwoch eine Absage erteilt.

Der Parteivorstand stellte auf der Sitzung selbstkritisch fest, daß es der SED-PDS seit dem außerordentlichen Parteitag im Dezember nicht gelungen sei, „sich so zu erneuern, daß sie bereits eine neue Partei geworden“ ist. Dennoch könne eine Auflösung der Partei die Polarisierung in der Gesellschaft und den Grad der erreichten Spannungen nicht abbauen, verkündete Gysi in der Nacht zum Sonntag vor Jounalisten. Der Parteivorstand gehe davon aus, daß der Erneuerungsprozeß und die bevorstehende Vertragsgemeinschaft mit der Bundesrepublik auch starke linke Kräfte im politischen Spektrum benötige. „Die Partei des Demokratischen Sozialismus wäre in diesem linken Spektrum ein wichtiger Faktor.“

Gysi räumte ein, daß auf dem Weg zur Erneuerung auch durch die Parteileitung Fehler begangen worden seien. Es gebe zudem Mitglieder, die „sehr bewußt den Erneuerungsprozeß behindern, weil sie „stalinistische Strukturen bewahren beziehungsweise restaurieren wollen“. Als dringliche Schritte sieht es die Parteiführung an, daß zügig alle Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen werden, „die Strafgesetze verletzten oder sich durch ein rücksichtsloses Disziplinieren von Andersdenkenden hervorgetan haben“.

Die gleichzeitig am Samstag tagende Schiedskommission teilte am Sonntag morgen mit, daß außer Krenz, Schabowski und Keßler weitere elf Mitglieder und Kandidaten des alten Politbüros aus der Partei ausgeschlossen werden. Dazu gehören Gerhard Schürer, der bis vor wenigen Tagen als Vorsitzender der staatlichen Plankommission noch als Minister tätig war, der früher für Medien und deren Zensur zuständige Joachim Herrmann sowie der Chefideologe Kurt Hager. 47 ehemalige Genossen wurden rehabilitiert.

Der Vorstand beschloß ferner, sich von weiteren parteieigenen Verlagen zu trennen. Parteigebäude sollen unter anderem anderen Parteien und Bewegungen, „die über keine ausreichenden Räumlichkeiten verfügen“, zur Verfügung gestellt werden.

Gysi dementierte Meldungen, daß sein Stellvertreter Wolfgang Berghofer beabsichtige, die Partei zu verlassen und zur SPD wechseln wolle. Nach der Rückkehr Berghofers, der sich zur Zeit in Österreich aufhält, will sich Gysi mit dem Dresdener Oberbürgermeister zu einem Gespräch treffen.

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