: „Kein zweites Afghanistan“
■ Bürger wehren sich gegen den Mißbrauch der Truppen
Eine der schockierendsten Szenen, die in der vergangenen Woche über die sowjetischen Bildschirme flimmerten, kam nicht etwa aus Aserbaidschan oder Armenien, sondern aus der südrussischen Stadt Stavropol. Mehrere tausend Menschen, überwiegend russische Mütter, hatten sich versammelt, um gegen die plötzliche Rekrutierung ihrer Söhne, Männer und Brüder zu demonstrieren, die in dem ethnischen Bürgerkrieg 400 Meilen weiter südlich eingesetzt werden sollten. „Warum holen sie sie bei Nacht“, schrie eine Mutter einem Parteifunktionär ins Gesicht. Eine andere Mutter sagte: „Wir wollen nicht, daß die Menschen dieser Republiken unsere Söhne Besetzer nennen. Wir wollen kein neues Afghanistan.“
Nach Zeitungsberichten vom Samstag hat es in mehreren Städten Südrußlands weitere Protestaktionen gegen die Mobilisierung von Rekruten gegeben. Seit Donnerstag würden in der russischen Stadt Krasnodar am Nordrand des Kaukasus „viele tausend“ Menschen gegen die Mobilisierung von Rekruten für Aserbaidschan protestieren, berichtete die Zeitung des Kommunistischen Jugendverbands, 'Komsomolskaja Prawda‘. In der südrussischen Industriestadt Schachti hätten „Verwandte von Rekruten mit Gewalt versucht, Mobilisierungen zu verhindern“. Die spontanen Proteste russischer Bürger gegen den Wehrdienst sind ein ominöses Zeichen für die sowjetische Armee und das Ministerium für innere Angelegenheiten, die die Truppen zur internen Aufruhrbekämpfung stellen. Die Unmutsäußerungen signalisieren aber auch einen fundamentalen Einstellungswandel. Der Propagandakult um die Revolution von 1917, aber auch die hohen Verluste im Zweiten Weltkrieg haben den Wehrdienst zu einer unantastbaren Institution werden lassen.
Im Zuge der Öffnungspolitik drangen allerdings Informationen über Mißhandlungen von Rekruten in der Ausbildung nach außen, die das Militär in Mißkredit brachten. Obendrein hat die Regierung noch militärische Abenteuer, die bis dahin in den heroischsten Farben ausgemalt wurden, offiziell verurteilt: Die Besetzung der Tschechoslowakei 1968 und der zehnjährige Krieg in Afghanistan. Der berüchtigte Einsatz der Truppen in Tiflis, bei dem etwa zwanzig Menschen ums Leben kamen, wurde erst kürzlich von einer parlamentarischen Kommission als Verbrechen gegen die Menschheit bezeichen.
wps
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