: Kritik wegrationalisiert?
■ Wie und warum die Arbeiter im Schwermaschinenbau „Heinrich Rau“, Wildau (DDR), um ihre Betriebszeitung kämpfen
Am 13.Dezember 1989 erschien Nummer 50/39 des 'Schwungrad‘, der Betriebszeitung im VEB Schwermaschinenbau „Heinrich Rau“, Wildau (ehemals Organ der Betriebsparteileitung). Es war die letzte Ausgabe des Jahres.
Die letzte überhaupt? „Wir wollen die kurze Pause zwischen der heutigen und der am 3.Januar erscheinenden ersten Ausgabe des Jahres 1990 zur Neubestimmung unserer Zeitung nutzen. Auf ein Neues denn...“ verabschiedetete sich Werner Schulze, zweiter Redakteur, von den Lesern.
Schon einen Tag nach Erscheinen der Nummer 50 wurde ihm von der Betriebsleitung mitgeteilt, es werde keine Nummer 1/40 und keine weiteren Ausgaben mehr geben. Die Begründung lautete: „Das 'Schwungrad‘ ist zu teuer. 150.000 Mark pro Jahr sind zuviel. Bei 50 Ausgaben im Jahr und einer wöchentlichen Auflage von 3.800 Exemplaren ergäbe sich pro Zeitung ein Preis von 0,79 Mark. Der bisherige Preis von 5 Pfennigen ließe sich auf keinen Fall beibehalten... Außerdem wurde bereits in mehreren Betrieben so verfahren...“
„Das soll wohl heißen“, schreibt Hans Scharfenberg aus der Abteilung AVM-2 (Bereich Absatz) am 3.Januar in einem Flugblatt zur Rettung der beliebten Betriebszeitung „es liegt im Trend der Zeit“, „es hat sich so bewährt“.
Im Werk gibt es berechtigt scheinende Zweifel an dieser Begründung. „Wir sind auf die Straße gegangen und haben was erreicht, und jetzt wird zurückgeschlagen“, sagte Brigitte Meinicke-Kleint, am 10.Januar während einer Zusammenkunft mehrerer Arbeiter in der Redaktion. Hat die Betriebsleitung oder gar der Betriebsdirektor Reinhardt Anlaß, zurückzuschlagen? Vielleicht, weil er des Amtsmißbrauchs zu persönlichem Vorteil beschuldigt wurde?
Ich habe mir die letzten sechs Ausgaben des 'Schwungrad‘ angesehen, also die, die nach dem 8.November 1989 noch herauskamen.
Erschienen in den Wochen, da mit Bevormundung, Amtsmißbrauch, Korruption und den verschiedenen Erscheinungen sozialistischer Mißwirtschaft aufzuräumen begonnen wurde.
Am 8.November mahnt in Nummer 45 noch die Betriebsparteileitung in einem Aufmacher „Wir wollen vernünftig arbeiten!“ Das heißt soviel wie: Nun nehmt mal Vernunft an, Kollegen, tut eure Pflicht!
Mehr hatten sie ja nie gewollt, die Arbeiter und Angestellten bei „Heinrich Rau“. Das Material sollte bereitstehen, alles gut vorbereitet sein, damit sie richtig loslegen konnten in ihrem Betrieb, der seit gut vierzig Jahren das ökonomische und kulturelle Zentrum der Gemeinde Wildau und darüber hinaus des Kreise Königs-Wusterhausen ist. Aber man hat sie ja nicht gelassen.
Kritik gab es nur klein-klein, auch in der Betriebszeitung. Noch in der gleichen Ausgabe Nummer 45 sieht Werner Schulze sich gezwungen, über eine BGL-Sitzung am 31.Oktober zu schreiben: „Das ganze Land ist im Aufbruch, drängt auf Veränderung, Erneuerung. Nur, so mein Eindruck, scheint die Zeit in unserem Betrieb stehengeblieben zu sein.“
„Vertrödeln wir nicht länger die Zeit“, forderte am gleichen Tag ein Arbeiter in einer dreistündigen leidenschaftlichen Debatte, „sonst läuft sie uns davon...“
Von da an wurde die Betriebszeitung das, was sie eigentlich von Anbeginn hätte sein sollen. Sie wurde zum Sprecher der über 3.600 Beschäftigten des Werkes. Der Hauptmechaniker Stach macht sich Luft: „Mit dem Zustand, daß Arbeiten wochenlang unterbrochen werden und Rüstungen dadurch extrem lange gebunden sind, lebe ich seit Jahren“, und er meint, daß er nun, da seit Jahrzehnten keine Kapazitäten für Werterhaltungsmaßnahmen bilanziert werden, ihm nur noch bleibt, den „gesetzwidrigen Weg zu gehen“, eigenmächtig Verträge mit anderen Betrieben abzuschließen.
Kritik an Leichtsinn und einer dem Außenstehenden völlig unverständlich erscheinenden Schlamperei nahm jetzt großen Raum im Blatt ein. Seit 1988 klagte, so erfuhren jetzt alle, Paul Britze, Mitglied der BGL, für die Innenmontage bessere Lichtverhältnisse ein. Statt der für diese Abteilung von der Arbeitshygiene der Poliklinik geforderten 250 Lux, wurden in den verschiedenen Bereichen der Halle fünf nur 170, 140, 100 oder gar nur 70 Lux gemessen. Daran hat sich bis Ende 1989 nichts geändert.
Werner Hoppe aus dem TK (Abteilung Konstruktion, jetzt Mitglied einer betrieblichen Untersuchungskommission) forderte wegen solcher und anderer Mißstände, wegen der alten eigenmächtigen, ja selbstherrlichen Leitungsmethoden und unvertretbarer Privilegien den Rücktritt der Leitung.
Er kündigte an, daß er helfen wolle, die Nutzung betrieblicher Baukapazitäten außerhalb des Betriebes während der Arbeitszeit für gewisse Betriebsangehörige und sogar Leute, die nichts mit dem Werk zu tun haben, aufzudecken.
Schließlich erschien in Nummer 49 unter dem Titel „Tiefbohrtechnik - Fluch oder Segen? Oder: Ein Kapitel deutsch-deutscher Zusammenarbeit“ ein kritischer Artikel, den die Redaktion schon hatte am 24.Mai veröffentlichen wollen. Damals war es ihr untersagt worden.
Beiträge dieser Art mögen den technischen Direktor Franz Kuhn veranlaßt haben, Anfang Dezember zu fragen, ob denn das 'Schwungrad‘ neuerdings die Privatzeitung des Redakteurs Werner Schulze sei, denn zu dieser Vermutung sei er angesichts der vielen von diesem namentlich gezeichneten Artikel gekommen. Der entgegnete, natürlich in seinem Blatt, daß es Herrn Kuhn so unbekannt eigentlich nicht sein dürfte, daß er sich während seiner elfjährigen Redakteurszeit nie in eine „objektive Anonymität“ geflüchtet hätte... Und das auch auf die Gefahr hin, für kritische Anmerkungen belangt zu werden.
Als am 19.Dezember bei einer Leserversammlung bekannt gemacht wurde, daß das 'Schwungrad‘ eingestellt werden soll, ging die Nachricht in kurzer Zeit durch das ganze Werk: Wir haben keine Betriebszeitung mehr.
Gerhard Linke von der BGL hatte, wie es auf einem Flugblatt hieß, die Katze aus dem Sack gelassen: „Wir wollen nicht, daß sich im 'Schwungrad‘ alle mit Dreck bewerfen.“ Hans -Jürgen Dolny aus der Instandhaltung fragte: „Wer gibt eigentlich dem staatlichen Leiter das Recht, hinter verschlossenen Türen eine Sache zu entscheiden, die die ganze Belegschaft betrifft?“
Flugblätter erschienen, die das Fortbestehen des 'Schwungrad‘ forderten, Gewerkschaftsgruppen sammelten Unterschriften für ihr Blatt, an Wandzeitungen sprachen sich die Werktätigen für ihre Zeitung aus und die Lagerwirtschaft richtete einen offenen Brief an den BGL-Vorsitzenbden Günter Welsch, überschrieben „Das Schwungrad muß bleiben!“
Darin heißt es u.a.: „Durch freie und interessant gestaltete Aktualität werden in unserem Bereich anstelle von bisher 80 Exemplaren jetzt 100 verkauft. Wer tritt mit welchem Recht für die Abschaffung der einzigen betrieblichen Informationsquelle für uns Schwermaschinenbauer ein? Wir sind für eine unabhängig, demokratische Betriebszeitung, die besser in die Hände der Gewerkschaft gehört.“
So mancher wäre gerne auch auf der Vertrauensleutevollversammlung am 11.Januar für seine Zeitung eingetreten. Da sollte schließlich auch der Delegierte zum außerordentlichen FDGB-Kongreß gewählt werden.
Aber die Veranstaltung wurde klandestin vorbereitet. Nur durch Flüsterpropaganda hatten einige wenige davon erfahren.
Inzwischen hat Direktor Reinhard, wahrscheinlich um seine Leute zu beruhigen, verkünden lassen, daß man für die Zeit nach dem 31.März das Erscheinen einer neuen Betriebszeitung überlege. Bis dahin ist Redakteur Werner Schulze, der im volkseigenen Betrieb die Zeitung für die Arbeiter im Staat der Arbeiter und Bauern gestaltete als wär's seine eigene, längst Lagerarbeiter. Rainer Rosenthal, der erste Redakteur, hat bereits den Hut genommen. Und über alle Forderungen der Leser wird dann Gras gewachsen sein. Hofft Reinhardt.
Aber wie heißt es im Flugblatt von Hans Scharfenberg: „Auf einen Neuanfang freiwillig zu verzichten, hieße, Beihilfe zu leisten bei dem Versuch der Stalinisten, die alten Verhältnisse zu konservieren und die Wende höchstens außerhalb des Betriebes stattfinden zu lassen.“
Es ist spät, aber nicht zu spät. Redakteur und Autoren sind bereit, einen Beirat zu bilden, die Neugestaltung zu beraten. Die Leser zahlen gern 50 Pfennige für ihr Blatt, wenn sie es nur wiederbekommen. Aber warten auf einen Gnadenakt nach dem März wollen und können sie nicht.
Elfriede Steyer
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