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In Baku wächst der Widerstand

■ Ausschreitungen auch gegen Russen / Generalstreik geht weiter / Verhandlungen mit Volksfront?

Moskau (taz/dpa/afp) - In der Kaukasusrepublik Aserbaidschan wächst der Widerstand gegen die sowjetische Führung. In Baku wurden am Dienstag Flugblätter verteilt, die Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow die Schuld an der „Tragödie von Baku“ geben. Die Stadt war weiterhin von einem Generalstreik lahmgelegt. Sowjetische Zeitungen berichteten, von anhaltenden Ausschreitungen und Plünderungen seien zunehmend auch Russen und Ukrainer betroffen. Nach Angaben eines Volksfrontmitgliedes aus Baku gaben mittlerweile mehr als 100.000 KPdSU-Mitglieder in Aserbaidschan aus Protest gegen das Vorgehen Moskaus ihr Parteibuch zurück oder verbrannten es.

Damit verengt sich der Spielraum der Moskauer Zentrale weiter. In den sowjetischen Medien spiegelte sich am Dienstag zunehmend das Eingeständnis, daß der Konflikt auf militärischem Wege nicht zu lösen ist. Im Fernsehen hieß es, die nationalistische Bewegung sei eine starke Kraft in der kampfgeschüttelten südlichen Republik. Es sei „vielleicht an der Zeit, sich mit der Volksfront an den Verhandlungstisch zu setzen, um weitere Blutbäder zu vermeiden“.

Auf einer Pressekonferenz der ständigen Vertretung Aserbaidschans in Moskau wurde gestern über eine Sitzung des Obersten Sowjets Aserbaidschans am Montag berichtet, auf der unter anderem die „rechtswidrigen Handlungen von Truppen der Armee, des Innenministeriums und des KGB gegen die friedliche Bevölkerung von Baku erörtert“ worden seien. Das Parlament der Republik forderte die Einberufung einer Deputiertenkommission, die die Umstände und Ursachen untersuchen solle, die bei der Verhängung des Ausnahmezustandes und beim Einsatz der Streitkräfte den Ausschlag gaben. Der aserbaidschanische Oberste Sowjet forderte, den Erlaß des Obersten Sowjets der UdSSR über den Ausnahmezustand aufzuheben und die Streitkräfte baldmöglichst aus dem Lande abzuziehen. Über die Souveränität Aserbaidschans solle unter der Bevölkerung ein Referendum durchgeführt werden.

Wie der anwesende Beauftragte der Volksfront Aserbaidschans, Zochrab Schamchalow, ausführte, sei für den Truppenabzug ein Ultimatum bis heute früh gestellt worden. Als Grund für die kurze Frist nannte er fortgesetzte, ziellose Schießereien der Invasionssoldaten. Schamchalow bestätigte Gerüchte, daß in der Saljanskij-Kaserne in Baku inzwischen Sowjetsoldaten meuterten. Dies seien gemischtnationale Einheiten, in denen Russen, Tschetschen und Georgier dienten. Sie hätten sich Fortsetzung auf Seite 2

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geweigert, auf die Bevölkerung der Stadt zu schießen, und würden nun ihrerseits von der Unionsarmee unter Beschuß genommen. Dabei habe es Tote gegeben. Am Vorabend hatte auch 'Tass‘ von Schießereien in der Kaserne gesprochen, aber „Extremisten“ der Volksfront dafür verantwortlich gemacht.

In Gesprächen mit Ministerpräsident Gorbatschow, so Schamchalow weiter, habe sich dieser kategorisch geweigert, die Truppen abzuziehen. Schamchalow sagte, die Volksfront habe zum Zeitpunkt der Invasion die Unruhen in Baku nahezu unter Kontrolle gebracht, so daß man sich die Frage stellen müsse, ob der Einmarsch nicht rein politischen Zielen diene. Die Volks

front Aserbaidschans habe inzwischen mit Vertretern der „Armenischen Gesamtnationalen Bewegung“ an der Grenze zu Nachitschewan Verhandlungen aufgenommen, mit deren Ergebnissen man bisher zufrieden sei. Auf die Frage nach der Möglichkeit eines Dialogs zwischen der Moskauer Regierung und der aserbaidschanischen Volksfront antwortete der Vertreter der letzteren: „Wir bestehen darauf. Dieser Dialog hätte längst zustande kommen müssen.“

Barbara Kerneck

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