: Nur wer die Sehnsucht kennt
■ „Hoffnung und Schmerz“, ein Film des japanischen Regisseurs YojiYamada
Japan 1948: Atombomben haben den Krieg beendet. Hungernde stolpern durch zerstörte Städte, kaugummikauende Besatzer machen sich breit. Die Zukunft rast, die Tradition hinkt hinterher. Die Uhr schlägt Zwischenzeit, das Land befindet sich in jenem seltsamen Zustand des Nicht-mehr und Noch -nicht.
Japan 1988: Yoji Yamada dreht Hoffnung und Schmerz, einen Spielfilm über Japan im Jahre 1988. Wehmütig blickt er zurück, fängt sich Bilder ein und verstreut Zeichen auf der Leinwand. Nylonhemd und Kimono flattern einträchtig auf der Wäschestange aus Bambus. Quietschende Jeeps überholen ratternde Lastkarren, Turnschuhe knatschen an Holzsandalen vorbei. Die Mutter kniet bei der Teezeremonie, ihre Kinder trinken zum Sandwich Orange-Juice. In einer Zimmerecke lehnt ein Verkehrsschild: Railroad-Crossing.
Hoffnung und Schmerz: Eine Gruppe von Gymnasiasten rückt in den Vordergrund. Sie bewohnen ein marodes Schulheim. Sie haben lange Haare, huschen in schwarzen Capes durch die Gänge und pinkeln aus dem Fenster. Sie halten zusammen, lesen Kafka und werden rot, wenn sie lügen. Allesamt sind sie mittendrin, nicht mehr kindlich, noch nicht erwachsen.
Noch stürzt Holtan aus dem Zimmer, als unter einem verrutschten Kimono ein weißes Frauenbein aufblitzt. Arles, der Intellektuelle mit der geklebten Brille, verliebt sich zaghaft in die Prostituierte Sakiko. Onkel flieht wegen seiner unglücklichen Liebe zu Fusako aus dem Schulheim. Kosuke mit den traurigen Augen erzählt das Geschehen. Am Ende steht er als alter Mann vor einem Football-Feld und blickt auf die Schicksale seiner Freunde zurück. Zuvor jedoch wird beim alljährlichen Schauspiel-Wettbewerb von den Schülern Hebbels „Barbier von Zitterlein“ aufgeführt. Ausgerechnet Hebbel.
Friedrich Hebbel (1813-1863): Ein deutscher Dichter lebt und schreibt fast unbeachtet in seiner Zwischenzeit. Auch er klagt in seinen Werken über die Vergänglichkeit. Auch in seinen Stücken schreitet die Gesellschaft über die tragisch verstrickten Individuen hinweg. Mit einem seiner bürgerlichen Trauerspiele nehmen die Gymnasiasten ihren Abschied. Als die Schule schließt, werden sie sich in alle Winde verstreuen.
Yoji Yamada (1931-): Ein Regisseur sehnt sich mit einem Film zurück, hat Heimweh nach dem verlorenen Ort der Kindheit, vermißt die Unbeschwertheit, Unmittelbarkeit und Ursprünglickeit vergangener Tage. „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.“ Er läßt seine Protagonisten Goethe zitieren, bevor sie sich der Realität beugen. Yamada schwebt, genau wie Hebbel, in einem Spannungsfeld zwischen Idealismus und Realismus: nicht mehr hoffnungsvoll, noch nicht desillusioniert.
Michaela Lechner
Yoji Yamada: Hoffnung und Schmerz, nach einer autobiographischen Novelle von Akira Hayasaka, mit Hashinosuke Nakamura und Hiroko Yakushimaru, Japan 1988, 120 Min.
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